184Direkte Einflüsse auf Lipattizu Rumänien bekennen, sich von den rumänischen musikalischen Wurzeln inspirie-ren lassen und diesen dadurch nach außen Geltung verleihen. Mit »nostalgie« und »malheurs« bezieht sich Enescu vermutlich auf das in der Doina ausgedrückte »Dorul«,53 das er in den genannten Werken angedeutet sieht. Der Einfluss Enescus, der ohnehin auf indirekte Weise durch die Bedeutung sei-ner Kompositionen besteht, ist für Lipatti jedoch, vor allem in seinen Studienjahren, auch zwiespältig, da er die Partituren Enscus zwar mit Begeisterung studiert, doch gleichzeitig fürchtet, zu stark von ihnen beeinflusst zu werden: »Actuellement j’ai commencé à travailler la Sonate pour piano, mais cela avance bien lentement. J’ai peur de certaines influences, notamment de celles des sonates pour piano d’Enesco. J’essayerai quand même de me débarrasser de tout ça et d’être, autant que possible, moi-même«.54 3.2 Französische Einflüsse während des Studiums in ParisDen Einflüssen der rumänischen Schule folgen für Lipatti die in Paris erworbenen Kenntnisse der französischen Musik. Die Lehrerpersönlichkeiten, bei denen Lipatti in Paris studiert, sind für ihn maßgebliche Orientierungsgrößen der französischen Moderne. In ihnen konkretisieren sich die in Kapitel III.2 umrissenen ästhetischen Positionen und Entwicklungen. Für je ein halbes Jahr werden Paul Dukas und Igor Strawinsky, über einen Zeitraum von vier Jahren Nadia Boulanger für Lipatti zu Vermittlern der aktuellen französischen Musikkultur. Die zweifellos wichtigste kompositorische Bezugsperson und Lehrerin ist Nadia Boulanger, die in weiten Teilen das Werk Strawinskys in den Mittelpunkt stellt, er-gänzt durch einen gemeinsamen Kurs mit dem Komponisten an der École Normale de Musique.Damit wird der Studienort Paris für Lipatti vor allem zum neoklassizistischen und darin maßgeblich von Strawinsky geprägten Wirkungsfeld. Entscheidend ist weniger der direkte pädagogische Einfluss Strawinskys, auch wenn Briefe Lipattis seinen Kontakt zu Strawinsky, gerade zur Zeit der Arbeit am Concertino en style classique, festhalten,55 sondern vielmehr die Rezeption von dessen Werk durch Nadia Boulanger, die Hermann Danuser als Pädagogin dafür verantwortlich sieht, dass »der Neoklassizismus in gemäßigter Form die Geschichte der neotonalen Musik des zweiten Vierteljahrhunderts weithin bestimmte.«56 53Vgl. III.1.4 »Wurzeln der Volksmusik im rumänischen Hirtentum«.54Brief vom 20.12.1934 an Mihail Jora, in: Bărgăuanu / Tănăsescu, 1991, S. 35; »Momentan habe ich an-gefangen, an der Klaviersonate zu arbeiten, aber es geht sehr langsam voran. Ich habe Befürchtungen wegen gewisser Einflüsse, besonders der der Klaviersonaten von Enesco. Ich werde dennoch versu-chen, mich von alldem zu befreien, und so weit wie möglich ich selbst zu sein.«55Vgl. Bărgăuanu / Tănăsescu, 1991, S. 51.56Danuser, 1984, S. 158.