186Direkte Einflüsse auf Lipattigewisse ›Atmosphäre‹ zu bringen, könne es ebenso gut verstanden werden wie eines von Ravel oder z. B. von Richard Strauss.«60In diesen Zeilen wird deutlich, dass der Beginn in Paris für Lipatti auch die Reflexi-on der eigenen kulturellen Wurzeln anstößt und Impulse für die Suche nach kom-positorischer Identität außerhalb seines gewohnten Kulturraumes setzt. Die Frage nach der Universalität eines Werkes wird auch bei Strawinsky und Boulanger ein Thema bleiben.Ungeachtet dieser Diskrepanzen verläuft der persönliche Kontakt zwischen Li-patti und Dukas positiv. Anna Lipatti zitiert stolz die Beurteilung des ersten Trimes-ters: »Très brillamment doué, n’a besoin que de produire pour acquérir par des ex-périences personnelles, la pleine possession d’un talent presque formé.«61 Aus ei-nem nicht näher benannten Interview zitiert Lipattis Biograf Tănăsescu die Äuße-rung Dukas’, der die kompositorischen Fähigkeiten von Lipatti hervorhebt: »Le jeu-ne Roumain Dinu Lipatti est mon meilleur élève et en même temps un remarquable virtuose du piano. Je crois qu’il sera un second Enesco«62 – womit er auf die Vielsei-tigkeit der Ausbildung anstelle einseitigen Spezialistentums zielt.Direkte Einflüsse von Dukas auf Lipatti lassen sich schwer erkennen, denn der Unterricht widmet sich in erster Linie der systematischen Erarbeitung kompositori-scher, vor allem kontrapunktischer Grundlagen. Lipatti äußert sich begeistert über Dukas’ Oper Ariane et Barbe-Bleue. Dukas’ Tod fällt zeitlich mit Lipattis Debüt-Recital an der École Normale zusammen. Lipatti be-klagt den enormen menschlichen und musikalischen Verlust63 und beginnt zu Du-kas’ Andenken sein Recital mit dem Bachchoral »Jesus bleibet meine Freude«. 3.2.2 Igor Strawinsky Strawinskys Einfluss auf Lipatti vollzieht sich auf mehrfache Weise. Er besteht zum einen in Lipattis Rezeption der Werke Strawinskys;64 so gehören die Klaviersonate, die Danse Russe aus dem Ballett Petruschka und das Capriccio65 zu seinen Interpreta-tionen, außerdem erwähnt er die Mitwirkung im Klavierpart einer Studienauffüh-60Brief vom 25.03.1935 an Miron Șoarec, a.a.O., S. 35; »Relativ la ›atmosfera românească‹, am mereu discuții cu Dukas. El zice că o asemenea muzică nu poate deveni niciodată universală ci este pur și simplu o muzică regională. Eu din contra, îi spun că dacă autorul se mărginește să introducă în lucra-rea sa numai o ›atmosferă‹ oarecare, poate fi înțeleasă tot atît de bine de Ravel ca și de Richard Strauss spre exemplu.«61A. Lipatti, 1967, S. 40; »Äußerst brillant begabt, muss lediglich durch Erfarhrungen im eigenen Schaf-fen in den Vollbesitz seines nahezu vollendeten Talents gelangen.«62Tănăsescu, 1965, S. 9; »Der junge Rumäne Dinu Lipatti ist mein bester Schüler und gleichzeitig ein bemerkenswerter Virtuose am Klavier. Ich glaube, er wird ein zweiter Enesco«.63Vgl. Șoarec, 1981, S. 37.64Șoarec erwähnt, Lipatti habe die großen Partituren Strawinskys studiert, vgl. a.a.O., S. 71.65Das Capriccio wird von Lipatti im Anschluss an das Kompositionsseminar von Juli-September 1936 in Fundățeanca für ein Konzert im November erarbeitet, vgl. Brief Lipattis vom 25.07.1936 an Miron Șoarec, a.a.O., S. 46.