3.2 Französische Einflüsse während des Studiums in Paris187rung von Les noces bei Boulanger.66 Zum anderen werden ihm die Kompositions-prinzipien Strawinskys durch Nadia Boulanger nahe gebracht. Im Winter 1935/36 beteiligt sich Strawinsky in der Nachfolge des verstorbenen Paul Dukas an der Lei-tung eines Kompositionsseminars von Nadia Boulanger und wird so auch direkter Lehrer Lipattis. Der damalige Student Eric Walter White erinnert sich:»There were about ten students including Dinu Lipatti, Maurice Perrin and Léo Préger. The course consisted of two classes a week: one devoted to the analysis and criticism of the students’ compositions, the other to a study of works by the great masters. Stravinsky came to the second of these classes about once a month«.67 Unter den analysierten Werken Strawinskys nennt er u. a. Perséphone und das Con-certo für zwei Klaviere. Dieser Kurs stellt eine Ausnahme im Leben Strawinskys dar, da er sich selbst nicht als Lehrer versteht: »Ich habe weder Talent noch Neigung zum Unterrichten. Ich bin versucht zu glauben, daß die einzigen Schüler, die sich lohnen würden, auch ohne meine Hilfe komponieren lernen […]. Mich treibt es dazu, alles in meiner Art nach-zukomponieren, und zwar nicht nur Arbeiten von Schülern, sondern auch sol-che alter Meister. Wenn mir ein Komponist seine Musik zur Kritik vorlegt, kann ich ihm nur sagen, daß ich alles ganz anders gemacht hätte.«68Lipattis Studienkollege Maurice Perrin zeigt sich erstaunt über Strawinskys Vorge-hensweise bei der Verbesserung von Schülerentwürfen, denn das Entscheidende sei nie ein kompositorisches Prinzip, sondern das bloße Ausprobieren gewesen.69 Lipattis Korrespondenz belegt einen direkten Austausch mit Strawinsky über seine Werke, die während dieser Studienzeit entstehen, z. B. das Concertino en style classique und die Toccata pour orchestre de chambre: »Je l’ai présentée [sic!] à Stravins-ky qui m’a dit qu’il ne peut mieux me conseiller que de continuer dans cette direc-tion.«70 »Cette direction« steht für die maßgebliche Orientierung an neoklassizisti-schen Idealen: »Le concerto je le vois en style classique. C’est un domaine qui m’offre pour le moment des ressources inattendues. La Toccata est écrite dans le même style.«71Es ist nicht eindeutig nachzuweisen, welche Auffassungen Strawinskys den größten Einfluss auf Lipatti nehmen. Im Folgenden sollen vor allem die Komposi-66Vgl. a.a.O., S. 48.67White, Eric Walter: Stravinsky. The Composer and his Works, London / Boston 21979, S. 110.68Strawinsky, 1961, S. 191.69Vgl. Perrin, Maurice: Stravinsky in a composition class, in: The Score, Juni 1957, S: 87.70Brief vom 05.04.1936 an Mihail Jora, zit. nach Bărgăuanu / Tănăsescu, 1991, S. 51; »Ich habe sie Stra-winsky gezeigt, der mir gesagt hat, dass er mir nichts besseres raten kann als in dieser Richtung wei-ter zu machen.«71Ebd.; »Das Concerto sehe ich im klassischen Stil. Das ist ein Bereich, der mir im Augenblick unerwar-tete Möglichkeiten aufzeigt. Die Toccata ist im gleichen Stil geschrieben.« Vgl. auch IV.2.1.2 »Begin-nende Orientierung am Neoklassizismus: Concertino en style classique op. 3«.