190Direkte Einflüsse auf Lipattider Kulturkreise werden aus dem alten Kontext und der ursprünglichen semanti-schen Bedeutung herausgelöst und als rein musikalisches Material weiterverarbei-tet. Als Prototypus dieses produktiven Umgangs mit einer historischen Vorlage gilt Pulcinella. Die Verarbeitung der Pergolesi-Vorlagen90 zielt auf Abstrahierung und Verfremdung durch rhythmische und melodische Brüche in der Periodenbildung, Verkürzung oder Erweiterung motivischer Figuren, Umformung und unerwartetes Einfügen von Phrasen, scharfe Harmonisierungen schlichter melodischer Figuren, Veränderungen in Metrum und Tempo und groteske Klangfarben wie etwa das Kontrabasssolo in extremer Tonhöhe im siebten Satz. Durch die charakterliche Ver-änderung eines direkt verarbeiteten historischen Originals zeigt der Neoklassizis-mus sich als ein Gestus, der eine Art Schattenriss von Barock oder Klassik schneidet und mittels Überzeichnung ein klassizistisches Prinzip eher vorführt als es wirklich zu verkörpern, wie ein Denkmal der Klassik mit Witz und Spielfreude aus der Di-stanz heraus. Weniger festgelegte historische Anleihen zeigen sich auf unterschiedliche Weise, Beispiele sind barockisierende Elemente wie unablässige Motorik im ersten und dritten, bzw. der durchlaufende Puls im zweiten Satz der Sonate für Klavier oder tänzerische Verspieltheit der Motive in Dumbarton Oaks, doch auch die vollkommen gegensätzliche Expressivität in Apollon musagète. Die Distanz zu den alten Verwendungszusammenhängen entsteht vor allem durch die verfremdende, teilweise ironische Porträtierung der Vorbilder. Elemente werden z. B. extrem reduziert auf einen charakteristischen Kern, etwa eine kontext-gebundene Klangfarbe wie die des an den ländlich-volkstümlichen Rahmen gebun-denen Zymbal im Ragtime für elf Instrumente oder das Ersetzen der Trompete durch das Kornett in der Histoire du soldat. Der unkonventionelle Umgang mit altbekanntem Material bricht mit den zeitge-nössischen Hörerwartungen. Das »›Interpolieren‹, Zwischenschalten«91 oder Zitie-ren von fremdem oder traditionellem Material, ob zweckfrei, atmosphärisch oder als klischeebesetztes Muster führt auch dazu, den »Schein des Selbstverständlichen […] des musikalischen Ablaufs als solchen aufzuklären«.92 Die musikalischen Bezü-ge erhalten durch ihre kontextuelle Umdeutung oftmals eine parodistische Note, die nicht als Brüskierung oder Spott aufzufassen ist, sondern als »geistvolle Anspie-lung, die sicher sein darf, vom Hörer verstanden zu werden.«93 Eine im Sinne des russischen Formalismus verstandene Form der Parodie habe »die wichtige, ganz neue Aufgabe, eine ›automatische‹ Apperzeption der Musik zu verhindern, darüber90Dass es sich teilweise nicht um Original-Material Pergolesis handelt, wurde erst später offenkundig, vgl. z. B. Scherliess, 1998, S. 64.91Scherliess, 1998, S. 140.92Stephan, 1996, Sp. 252. Das Zitat bezieht sich auf Strawinsky.93Scherliess, 1998, S. 120.