3.2 Französische Einflüsse während des Studiums in Paris191hinaus sogar durch Störungen den gewohnten Automatismus der Aufnahme be-wußt zu machen.«94 Transparenz und Nuancierung wird durch die Reduzierung des Orchesterappa-rats zu Miniaturorchestern mit eigenwilliger Klangfarbenmischung und kammer-musikalischen Formationen mit teilweise ungewöhnlichen Kombinationen erreicht, etwa in der Histoire du soldat oder in der Gesangssuite Berceuses du chat für Stimme und drei Klarinetten. Die Stilisierung durch ökonomische Beschränkung liegt in ei-ner allgemeinen Tendenz zur »Ästhetik des Minimum«95 wie sie sich etwa auch in den Idealen der Jungen Klassizität Busonis, den Kurz- und Minutenopern Hinde-miths und Milhauds oder auch in Werken Arnold Schönbergs, Anton Weberns, Al-ban Bergs oder denen der »Groupe des Six« zeigt und die in den Jahren des Ersten Weltkrieges auch durch rein praktische Gründe leichterer Realisierbarkeit verstärkt wurde. Diese Komprimierung zeigt sich auch auf den Ebenen von Melodik, Rhythmus, Harmonik und der formalen Konzeption. So weist Strawinsky der Melodie als tra-gender Linie einen herausgehobenen Stellenwert zu:»Unter dem Einfluß des doktrinären Intellektualismus der ernsten Musik-freunde war es eine Zeitlang Mode, die Melodie zu verachten. Ich denke all-mählich wie das große Publikum: daß nämlich die Melodie den obersten Platz in der Hierarchie der Elemente behalten muß, aus denen die Musik sich zu-sammensetzt.«96 Gleichzeitig fällt die knappe Diktion auf. Oft sind es schlichte melodische Einfälle, die in stereotypen oder variierenden Wiederholungen die Idee des Stückes tragen. Nicht nur in traditionellen russischen Melodien, auch im Rückbezug auf historische Kunstmusik wird fortschreitend entwickelnde Themenarbeit nach dem Vorbild der Wiener Klassik vermieden. Hingegen ist der Anschluss an Lully und die französi-sche Vorklassik zu erkennen, etwa in der punktierten und verzierten Themenbil-dung im zweiten Satz des Capriccio, die an die barocke französische Ouvertüre erin-nert. Dem rhythmischen Bereich kommt in Strawinskys Werk konstitutive Bedeutung zu. Das Prinzip der Geschlossenheit durch motorische Kontinuität, ostinate Patterns und formgebende Konturen wird auf der Mikroebene konfrontiert mit unerwarte-ten Impulsen von Synkopen, Akzentsetzungen und metrischen Asymmetrien, die die kontinuierliche Bewegung durchbrechen wie z. B. im dritten Satz von Pulcinella. Ein solches Prinzip kontrastierender Überlagerung besteht auch auf der Ebene der 94Stephan, Rudolf: Zur Deutung von Strawinskys Neoklassizismus, in: Ders., 1985, S. 244. Stephan be-zieht sich auf die Literaturtheorie des Formalismus von Sklovskij und fügt an, um begrifflichen Miss-verständnissen vorzubeugen, a.a.O., S. 248: »Die Musik Strawinskys seit Pulcinella verdankt sich kompositorischen Verfahren, die ihrerseits einem spekulativen System verpflichtet sind. Dies ent-spricht der Theorie der formalistischen Methode. In diesem Sinn – nicht in einem unverbindlichen, oder gar in einem pejorativen – kann sie als formalistisch gelten.« 95Scherliess, 1998, S. 119.96Strawinsky, Musikalische Poetik, 1983, S. 198.