192Direkte Einflüsse auf LipattiHarmonik durch verschärfende Erweiterung des Tonvorrats, Mixturen und bi- bzw. polytonale Parallelbewegungen. Da jedoch Tonalität lediglich ein Mittel der Aus-richtung zwischen Anziehungspolen97 sei, gewinnt das Changieren zwischen Kon-sonanz und Dissonanz durch einzelne Töne, Zellen, Intervalle oder Intervallkonstel-lationen als Bezugsgrößen an Gewicht, denn »nichts verpflichtet uns, die Befriedi-gung dauernd nur in der Entspannung zu suchen. Seit mehr als einem Jahrhundert häuften sich in der Musik die Beispiele für einen Stil, in dem die Dissonanz sich emanzipierte. Die Dissonanz ist also ebensowenig ein Faktor der Unordnung wie die Konsonanz eine Garantie der Sicherheit.«98 Andererseits bestehen auch im har-monischen Bereich Prinzipien der Vereinfachung, etwa der Verzicht auf harmoni-sche Entwicklungen zu Gunsten traditionell orientierter Stereotype, z. B. Orgel-punkt oder Bordun, wodurch häufig eher von einer klanglichen Grundierung als von einer harmonischen Auskomposition gesprochen werden kann.99Grundlegend ist die Überlagerung verschiedener Elemente. Dadurch geschieht der Ausgleich zwischen Beständigkeit einerseits und neuen, kontrastierenden Ele-menten andererseits: »Der Kontrast ist ein Element der Mannigfaltigkeit, aber er verwirrt die Kon-zentrationskraft. Die Analogie entsteht aus dem Willen zur Einheit. Der Wunsch nach Abwechslung ist vollkommen legitim, aber man darf nicht ver-gessen, daß die Einheit der Vielfalt vorausgeht. Ihre gleichzeitige Existenz ist übrigens dauernd erforderlich, und alle Probleme der Kunst […] drehen sich verzweifelt um diese Frage«.100 In zeitlicher Nähe zum Kubismus in der Malerei kommt hier ein Montageprinzip zum Tragen, das musikalisches Material als in objektive Versatzstücke auflösbar versteht, die variabel verfügbar sind. Kombinierte Materialien verschiedener Her-kunft sichern zugleich Belebung und Solidität. So verleihen volksmusikalische und historische Materialien mit ihren Strukturen aus bestimmten Kulturen und Traditio-nen der Komposition Halt; dabei werden funktionelle Zusammenhänge etwa von klassischer, sakraler oder auch trivialer Musik aufgelöst und mit konträren Kontex-ten kombiniert. In diesem Verfahren wird Zugehörigkeit und Abgrenzung gleicher-maßen vollzogen.Im Bereich der Folklore greift Strawinsky gleichermaßen auf ländlich-volksmusi-kalische wie städtisch-triviale Elemente zurück, die jedoch keinen ideellen Stellen-wert erhalten. Vielmehr dienen der Volksmusik entlehnte Skalen, Rhythmen oder Artikulationsweisen im Rahmen seines neoklassizistischen Verständnisses als Mate-rial neben weiteren historischen Vorlagen, die ebenfalls ihrer semantischen Aussage enthoben sind. In diesem Sinne warnt Strawinsky vor einer folkloristischen Grund-ausrichtung der Musik als »gefährliche Neigung, eine Kunst noch einmal schaffen 97Vgl. a.a.O., S. 195.98Ebd.99Stephan führt in diesem Zusammenhang das Beispiel der Scherzlieder an, vgl. Stephan, 1985, S. 243.100Strawinsky, Musikalische Poetik, 1983, S. 193.