3.2 Französische Einflüsse während des Studiums in Paris193zu wollen, die längst vorhanden ist und ihren Ursprung dem Instinkt und Genie des einfachen Volkes verdankt«.101 Dieser Rat ist auch Teil des Pariser Kompositi-onsseminars: »Gebrauchen Sie nie Folklore in einem sinfonischen Werk; Folklore ist bäu-risch und wird es immer bleiben; für eine Einzelstimme, ein Soloinstrument mag es einmal hingehen, aber das ist auch alles; Sie können der Folklore quan-titativ etwas hinzufügen, qualitativ können Sie sie nicht mehren«.102Außerdem sieht Strawinsky, ähnlich wie Dukas, in der zunehmenden Bedeutung der Nationalstile eine Gefährdung des musikalischen Universalismus im Sinne von kulturübergreifenden musikalischen Qualitätsmaßstäben. So warnt er vor einem Zerfall in musikalische Einzelkulturen, die die geistige Entwicklung Gesamteuropas hemmen könnte: Aus »universalen Kulturzentren wurden partielle. Sie konzentrieren sich in ei-nem nationalen, d. h. regionalen Rahmen, mit der Tendenz, sich bis zum völli-gen Verschwinden aufzulösen. […] Der Universalismus, dessen Wohltaten wir im Begriff sind zu verlieren, ist etwas ganz anderes als der Kosmopolitismus, der beginnt, uns zu gewinnen. Der Universalismus setzt die Fruchtbarkeit ei-ner Kultur voraus, die sich nach allen Seiten hin ausbreitet und mitteilt, wäh-rend der Kosmopolitismus weder Aktion noch Doktrin vorsieht und die teil-nahmslose Passivität eines sterilen Nachahmertums zur Folge hat.«103Dies beinhaltet nicht zuletzt eine deutliche Kritik gegenüber den zahlreichen noch jungen nationalen Schulen, denen in Rumänien auch Lipatti angehört und deren Ziel es ist, gerade durch die Verarbeitung landeseigener Traditionen kompositori-sche Eigenständigkeit und Originalität zu betonen.Zusammenfassend zeigen sich folgende Kennzeichen für Strawinskys neoklassizistische Kompositionsweise und Lehre:– der Grundsatz »Arbeiten« statt »Philosophieren« im Sinne der Zurücknahme des außermusikalischen Gehalts gegenüber rein musikalischen Ideen; – feste Regelwerke und strenge Verarbeitungsformen als Fundament für die schöpferische Freiheit; – ein handwerklich ausgerichteter Arbeitsbegriff in der Komposition, der Musik aus unterschiedlichen historischen, kulturellen und zeitlichen Zusammenhängen von einem möglichst objektiven Standpunkt der Materialverarbeitung betrachtet; – die Neukonstruktion des ausgewählten und als variabel verstandenen Materials mit dem Zielen auf bewusste Brüche und Störungen des vorhersehbaren Ablaufs;101Strawinsky, Igor : Erinnerungen (Paris, 1930), in: Ders., Schriften und Gespräche I, Darmstadt 1983, S. 105.102Perrin, 1957, S. 87. 103Strawinsky, Musikalische Poetik, 1983, S. 218.