194Direkte Einflüsse auf Lipatti– Streben nach Ausgleich zwischen Kontrastaufbau und Analogiebildung, Geschlossenheit und Brechung, Halt und Asymmetrie; – der Einsatz verfremdender Verfahren der charakterlichen Zuspitzung, Skelettierung, scharfen Konturierung, Überzeichnung mit Zügen der Verspieltheit im Sinne der klassizistischen Sérénité;– Prinzipien der Überlagerung, die Mehrdeutigkeit zulassen: kontrastierende formale Elemente, Polymetrik, Polytonalität;– Tendenz zu elementaren musikalischen Strukturen: Repetition rhythmischer Patterns, Schlichtheit, Komprimierung und Stereotypisierung in Harmonik, Melodik und formaler Anlage, variierende Wiederholung anstelle entwickelnder Verfahren.Diese Prinzipien werden als Orientierung für die Analyse von Lipattis neoklassizistischen Werken, darunter vor allem die Symphonie Concertante, die Aubade und das Concerto pour orgue et piano von Bedeutung sein.Strawinsky geht es jedoch nicht nur um die handwerklichen Aspekte des »sogenannten Neoklassizismus«,104 dem er für den Zeitraum 1930–45 auch die Richtungen um Schönberg und Hindemith als weitere Schulen zuordnet. Seine eigenen »Nachahmer«105 versteht er skeptisch als Imitatoren seines persönlichen Stils im Bereich des Rhythmus und der Harmonik und kritisiert »ihre Ostinati, ihre ›unerwarteten‹ Akkorde, ihre diatonischen ›Linien‹, ihre ›Dissonanzen‹, und ihre C-dur-, mit einem H oder einem A gewürzten Schlußakkorde.«106 Diese abwertende Darstellung zielt darauf, dass er seine Musik gerade nicht auf einzelne stilistische Effekte reduziert wissen will, sondern dass es ihm um das Denken in einer »neuen musikalischen Logik«107 geht, um den produktiven und originellen Umgang mit ästhetischen Vorbildern jenseits der Restauration alter Stile. Kenn-zeichnend dafür ist eine konstruktive Auseinandersetzung mit der Tradition: »Die wahre Tradition ist nicht Zeuge einer abgeschlossenen Vergangenheit; sie ist eine lebendige Kraft, welche die Gegenwart anregt und belehrt. […] Weit davon entfernt, die Nachahmung des Gewesenen zu bedeuten, setzt die Tradi-tion die Realität des Dauernden voraus. […] Brahms folgt der Tradition Beethovens, ohne ihm ein Stück seiner Kleidung zu entlehnen; […] Man er-setzt eine Methode durch eine andere: man knüpft an eine Tradition an, um et-was neues zu machen. Die Tradition sichert auf solche Weise die Kontinuität des Schöpferischen.«108 104Strawinsky, 1961, S. 198.105Ebd.106Ebd.107Strawinsky, Musikalische Poetik, 1983, S. 195.108A.a.O., S. 207.