3.2 Französische Einflüsse während des Studiums in Paris195In der Auseinandersetzung um die musikalische Moderne wehrt er sich strikt dage-gen, den Gehalt von Neuerungen als Selbstzweck und Wertmaßstab zu betrachten: »Unsere avantgardistischen Eliten, die sich dauernd überbieten wollen, erwar-ten und fordern von der Musik, daß sie ihren Hang nach absurden Kakopho-nien befriedige. […] Ich gestehe also, daß ich vollkommen unempfindlich bin für das Prestige der Revolution. […] Denn die Revolution ist eine Sache und die Neuerung ist eine andere.«109 Für Lipatti wird die von Konstruktionsprinzipien geleitete neoklassizistische Hal-tung Strawinskys zum ästhetischen Vorbild. Superlativisch äußert er sich über Pul-cinella: »L’ouvrage est adorable, d’ailleurs tout ce qui passe par la main du grand magicien Stravinsky ne peut être que remarquable.«110 In einer weiteren Konzertrezension zeigt er sich beeindruckt von der »construction sévère«111 der Symphonie des psaumes sowie von Ironie und Humor in Jeu de cartes,112 auch wenn er in Bezug auf einige Werke, namentlich auf das an die Brandenburgischen Konzerte angelehnte Kammerkonzert Dumbarton Oaks, eine ausgeprägte Objektivität moniert, die ihn nicht angesprochen habe. So schreibt er in einer Rezension »j’avoue qu’il m’a laissé froid. L’habileté de Stravinsky est toujours la même, mais je me demande si la merveilleuse flamme qui anime Le sacre du printemps, les Noces et Pétrouchka ne s’est pas éteinte avec Perséphone. Pourtant ses dernières oeuvres sont si objectives que je n’ai pas pu m’empêcher de me poser cette question.« 113 Auch Lipatti verwendet hier die Kategorie der »objektiven« Musik und stellt gleich-zeitig klar, dass ihm diese Ebene zu nüchtern ist. Wie er selbst diese Lücke füllt, etwa im Rückgriff auf Elemene und Sinnzusammenhänge der rumänischen Volks-musik, wird zu untersuchen sein. 3.2.3 Nadia BoulangerStrawinskys Auffassung vom Neoklassizismus findet in der Lehre Nadia Boulan-gers (1887–1979) ihre Fortsetzung. Der Musikhistoriker Hans Heinz Stuckenschmidt 109A.a.O., S. 181f. 110Konzertkritik vom 15.06.1938 in der Libertatea, Bukarest, in: Bărgăuanu / Tănăsescu, 1991, S. 235; »Das Werk ist entzückend, übrigens kann alles, was aus der Hand des großen Zauberers stammt, nur bemerkenswert sein.« 111Vgl. Konzertkritik vom 20.03.1938, a.a.O., S. 229.112Vgl. ebd. 113Konzertkritik vom 22.06.1938, a.a.O., S. 237; es ist die Rede vom »Konzert in Es für Kammerorchester«, daher kann vermutet werden, dass es sich um Dumbarton Oaks handelt; »Ich gestehe ein, dass es mich kalt gelassen hat. Die Geschicklichkeit von Strawinsky ist immer noch dieselbe, doch frage ich mich, ob die zündende Flamme, die Sacre, Noces und Petruschka beseelt, nicht mit Perséphone erlo-schen ist. Die letzten Werke sind so objektiv, dass ich nicht umhin kann, mir diese Frage zu stellen.«