196Direkte Einflüsse auf Lipattihebt die Bedeutung Boulangers für mehrere Komponistengenerationen mit interna-tionalem Hintergrund hervor: »In ihrer Harmonie- und Kompositionsklasse wurden so verschiedene und so interessante Komponisten wie Jean Françaix, Igor Markewitsch, Aaron Cop-land, Walter Piston, Roy Harris, David Diamond und Lennox Berkeley ausge-bildet, die fast alle im weiteren Sinne der Strawinsky-Nachfolge und neoklas-sizistischen Richtung angehören.«114Ebenso bestätigt Rudolf Stephan: »Strawinskys erfolgreicher Neoklassizismus wirk-te, auch vermittelt durch die Lehre von Nadia Boulanger, international.«115 Zwischen Strawinsky und Boulanger besteht eine tiefe musikalische und freund-schaftliche Verbindung, die sich im Schaffens- und Aufführungsprozess zahlreicher Werke Strawinskys widerspiegelt und zu der Kooperation im Kompositionsseminar führt. Boulanger selbst wendet sich von der Kompositionstätigkeit ab, nachdem sie im Anschluss an das Studium bei Fauré 1908 den Rompreis für ihre Kantate La Sirène erhalten und 1911 ihre Oper La ville morte vollendet hat, macht sich jedoch als Inter-pretin und Stiftungsgründerin116 die Rezeption des OEuvres ihrer 1918 verstorbenen Schwester Lili Boulanger zur Lebensaufgabe. Als Pädagogin und Dirigentin erlangt sie einen beispiellosen Ruf und dirigiert als erste Frau das Royal PhilharmonicOrchestra London, das New York Philharmonic Orchestra und das Philadelphia Or-chestra; sie wird Kapellmeisterin der fürstlichen Kapelle von Monaco und Dozentin am Conservatoire de Paris, wo sie von 1909 bis 1924 Harmonielehre-Unterricht er-teilt. 1920 nimmt sie eine Professur an der von Alfred Cortot und Auguste Mangeot 1919 gegründeten École Normale de Musique an (1920–39) und erhält nach der Be-rufung für den Bereich Musikgeschichte auch die, für eine Frau bis dahin unge-wöhnlichen, Professuren in Orgel, Harmonielehre, Kontrapunkt. An der 1921 gegründeten École de Fontainebleau wirkt sie ebenfalls als Profes-sorin und spätere Leiterin des Conservatoire Américain, an dem sie mit u. a. Aaron Copland, Leonard Bernstein, Elliott Carter, Roger Sessions bedeutende Persönlich-keiten der jungen amerikanischen Komponistengeneration unterrichtet.117 Dass die-se Ämter für eine Frau gesellschaftlich nicht unbedingt anerkannt waren, bringen die Worte Coplands zum Ausdruck, mit denen er seine zögerliche Entscheidung für die Wahl Boulangers als Lehrerin bedenkt: »No composer had ever had a woman teacher. It wasn’t Nadia Boulanger I was worried about – it was my reputation!«118 In der Öffentlichkeit sieht sie sich demnach mit Vorbehalten konfrontiert, wie ihr Biograf Jérôme Spycket festhält: »The only thing that irritated her was the importan-114Stuckenschmidt, 1951, S. 197.115Stephan, 1996, Sp. 253.116Lili Boulanger Memorial Fund, gegründet am 6. März 1939, dem Todestag von L. B.117Vgl. Spycket, 1992, S. 55.118Laut a.a.O., S. 53. Diese Äußerung wird bei Spycket wie viele andere ohne Quellenangabe verwendet und daher von mir mit dem Zusatz »laut« versehen.