198Direkte Einflüsse auf LipattiBoulanger selbst sieht in den Möglichkeiten technischer Reproduzierbarkeit die Gefahr »to arrest concepts in mid-flight (or to fail to do justice to them entirely)«,125 und sie steht der Anfrage von His masters voice zunächst zögernd gegenüber – ein Skeptizismus, den etwa Lipatti nicht teilt, sondern gerade als Anreiz für seine per-fektionistische Suche nach Authentizität in der Werkwiedergabe begreift.Die Konzertprogramme Boulangers konzentrieren sich jedoch keineswegs nur auf die Wiederentdeckung historischer Werke, sondern konfrontieren diese mit Kompositionen von Kollegen und Schülern: »The programs were astonishing, rang-ing from Monteverdi and Schütz to Poulenc and Françaix, including, en route, Bach, Mozart, Rameau, Ravel, and Debussy.«126 Der Tenor Hugues Cuénod, ebenfalls Schüler Boulangers und Widmungsträger der Mélodies von Lipatti, äußert sich ähnlich über die Werkauswahl, die dem Kom-positionsunterricht zu Grunde liegt: »Et puis le repertoire, si original de ›La Boulangerie‹! Les grands maîtres bien sûr, Bach, Mozart, Schubert, plus tard Monteverdi et Debussy, Strawinsky, Fauré, mais aussi ces inconnus – pour moi – sortis du moyen-âge et de la Re-naissance et qui faisaient comprendre où les ›grands‹ avaient puisé leur savoir et leur inspiration.«127Die Rezeption wiederentdeckter Werke gilt gleichermaßen der kompositorischen Theorie wie der Konzertpraxis; so macht Boulanger ihre Einspielung von Madriga-len und Arie profane von Monteverdi 1937 gleichzeitig zur Grundlage und inspirie-renden Quelle ihres Unterrichts. Der Werkbezug ist damit ein doppelter: »Die Erfahrung mit älterer Musik nahm nicht nur darin Einfluss auf die zeit-genössische Komposition, dass sie das Interesse für vergangene Stile weckte, sondern auch, indem die historische Aufführungspraxis und die Theorien der musikalischen Ausführung in ein Wechselspiel mit der Kompositionsästhetik traten.«128 Auf diese Weise verknüpft die Lehre Boulangers Werkaufführung, Interpretation, Analyse und Kompositionslehre und gilt darin als neuartig in ihrer Anschaulichkeit und lebendigen Aktualität. Interpretation und Analyse historischer Werke sind ihre Ausgangspunkte für die Unterweisung im systematischen Tonsatz und eine Basis des Kompositionsunterrichts. Damit dienen historische Kompositionen auch im neoklassizistischen Sinne dem kompositorischen Impuls. Einziges in jedem Trimes-125Laut Spycket, 1992, S. 84.126A.a.O., S. 92.127Cuénod, Hugues: Témoignages, in: Monsaingeon, 1983, S. 125; »Und dann das originelle Repertoire der ›Boulangerie‹! Natürlich die großen Meister, Bach, Mozart, Schubert, später Monteverdi und De-bussy, Strawinsky, Fauré, aber auch diese – für mich – Unbekannten, ausgehend vom Mittelalter und der Renaissance, und die verstehen machten, woher die ›Großen‹ ihr Wissen und ihre Inspiration ge-schöpft hatten.«128Scherliess, 1998, S. 158.