3.2 Französische Einflüsse während des Studiums in Paris199ter wiederkehrendes Schlüsselwerk ist das Wohltemperierte Klavier,129 flankiert von Komponisten des Vorbarock wie Palestrina, di Lasso, Byrd, Dowland, Morley, Pur-cell als Basis. Das gesamte Spektrum vom gregorianischen Choral bis zu Debussy und Werken der Moderne wird kompositorisch ausgewertet: »Elle nous posait des questions à leur sujet et trouvait d’habitude nos réponses plutôt superficielles. Elle procédait ensuite à une analyse en règle et trouvait à chaque page de multiples cho-ses et beautés sur lesquelles nous avions passé sans le remarquer.«130 Den Wert der theoretisch wie praktisch umfassenden und akribisch detaillierten Musiklehre beschreibt Lipattis Studienkollege und Freund Igor Markevitch rückbli-ckend in seinen Memoiren: »Je pense que peu de maîtres ont atteint l’art d’analyse de Nadia Boulanger. […] J’avais l’impression de suivre des leçons d’anatomie récurrentes où au lieu de disséquer, nous reconstruisions l’ouvrage en refaisant le chemin de l’auteur. L’art de Nadia, à la fois témoignage d’une tradition vivante et explo-ration de voies nouvelles, m’a donné des éléments fondamentaux de con-naissance qu’à mon tour j’ai explorés.«131Dieser Vergleich der Analyse mit dem Vorgang des Sezierens und anschließenden Neu-Zusammensetzens im Kontext lebendiger Tradition umreißt mit wenigen Wor-ten den Grundkomplex der in den Kapiteln III.2.5.1.2.4 und III.3.2.2 dargelegten neoklassizistischen Zielsetzungen. Markevitch etabliert sich nicht nur als herausra-gender Dirigent der Werke Strawinskys und der klassischen Moderne, sondern ist auch als Komponist von der neoklassizistischen Auffassung Boulangers geprägt.132 Merkmale dafür sind auch hier der formale Halt in historischen Vorbildern, melodi-sche Linearität, motorischer und spielerischer Fluss oder bi- und polytonale Harmo-nik. In seiner späteren Entwicklung als Dirigent setzt Markevitch die Umsetzung dieser Prinzipien der Ausdrucksklarheit, Sachlichkeit und Werktreue wie Boulanger auf interpretatorischem Wege fort. Doch die Lehre Boulangers unterscheidet sich etwa von der Strawinskys durch ihre persönliche Zurückhaltung: »My personal opinion is not what matters: it has no importance whatsoever.«133 Kompromissloser Strenge im musikalischen An-spruch steht die freie stilistische Entfaltung ihrer Schüler gegenüber, »totally tole-129Vgl. Monsaingeon, 1983, S. 64.130Berkeley, Lennox: Témoignages, in: A.a.O., S. 124; »Sie stellte uns Fragen dazu und fand unsere Ant-worten für gewöhnlich eher oberflächlich. Sie führte dann eine Analyse vorschriftsmäßig durch und fand auf jeder Seite eine Vielzahl von Besonderheiten und Schönheiten, über die wir hinweggegan-gen waren, ohne sie zu bemerken.«131Markevitch, Igor: Être et avoir été, Paris 1980, S. 136; »Ich glaube, dass wenige Meister die Kunst der Analyse Nadia Boulangers erreicht haben. […] Ich hatte den Eindruck, immer wiederkehrenden Ana-tomiekursen zu folgen, wo wir am Seziertisch das Werk rekonstruierten, indem wir den Weg des Au-tors noch einmal gingen. Die Kunst Nadias, Zeugnis einer lebendigen Tradition und Erkundung neu-er Wege, hat mir grundlegende Erkenntnisse gebracht, die ich auf meine Weise erforscht habe.« 132Vgl. Scherliess, 1998, S. 150f.133Laut Spycket, 1992, S. 54.