200Direkte Einflüsse auf Lipattirant of what was individual style and expression«,134 eine für diese Zeit unkonven-tionelle Form des Unterrichts. Von Monsaingeon wird überliefert, Kontrapunktauf-gaben lasse sie bis zur akademischen Perfektion sechsmal korrigieren, doch in die Kompositionen ihrer Schüler greife sie nicht ein.135 Dieses Vorgehen bestätigt ihr Schüler Lennox Berkeley, dessen Concert Polka für zwei Klaviere zu Lipattis Konzertprogrammen in den 40er Jahren gehört: »A part cela, elle nous aidait à former notre propre goût en insistant sur la nécessaire et pro-fonde connaissance des compositeurs du passé, sur la base de laquelle elle était en mesure de nous aider à bâtir notre sens de la forme.«136 Somit dienen die Analysen historischer Kompositionen als Impuls »à trouver un langage musical qui leur soit propre.«137 Berkeley bezeichnet Boulanger dabei als »inspiratrice«,138 deren Ziel nicht die Vermittlung eines Systems sei, da sie einem solchen als Bahn für die eigene Komposition misstraue, sondern vielmehr das Bewahren einer ernsten Neugierde: »My goal is to awaken my students’ curiosity, and then to show them how to satisfy that curiosity.«139Bei aller stilistischen Offenheit nimmt selbstverständlich Boulangers besondere Wertschätzung für die Musik des 16. und 17. Jahrhunderts und den Neoklassizis-mus Einfluss auf ihre Schüler. Ihre Haltung gegenüber der neuen Wiener Schule und den Ansätzen serieller Musik ist ein höchst distanziertes Interesse, bei dem sie ihre emotionale Ablehnung eingesteht, da diese Musik an die Grenzen ihres Emp-findens stoße.140 Vor allem in der Pariser Nachkriegszeit wird sie so zum Antipo-den des Webern-Schülers und Anti-Klassizisten René Leibowitz, was ihr den Vor-wurf des Restaurativen und der Einseitigkeit einbringt. In der stark national orien-tierten Musikentwicklung der Zeit vertritt Nadia Boulanger eine französische Mu-sikkultur, die nach Halt in den bewährten europäischen Traditionen und Klarheit der eigenen musikalischen Identität strebt, sich dabei jedoch internationalen, vor al-lem osteuropäischen und amerikanischen Musikkulturen öffnet. Ästhetische Grund-prinzipien sind für sie, ähnlich wie für Strawinsky, die Kategorien von Ordnung und Form, »la nécessité d’avoir une rigueur, d’avoir un ordre«.141 Yehudi Menuhin, dessen Sohn Jeremy auch zu den langjährigen Schülern Boulangers zählt, bestätigt diese Haltung: »Le style particulier d’un ouvrage n’était pas pour elle à discuter, du moment que chaque note s’insérait dans l’ordre des choses, délivrait un message et se 134Ebd.135Vgl. Monsaingeon, 1983, S. 77.136Berkeley, Témoignages, in: A.a.O., S. 124; »Abgesehen davon half sie uns, unseren eigenen Ge-schmack zu entwickeln, indem sie auf der notwendigen und tiefen Kenntnis der Komponisten der Vergangenheit bestand, die Basis, von der aus sie im Stande war, uns zu helfen, unser eigenes Form-empfinden herauszubilden.« 137Ebd.; »eine musikalische Sprache zu finden, die ihnen entspricht.«138Ebd.139Laut Spycket, 1992, S. 54. 140Vgl. a.a.O., S. 75.141Laut Monsaingeon, 1983, S. 62; »Die Notwendigkeit, eine strenge Richtung, eine Ordnung zu haben.«