3.2 Französische Einflüsse während des Studiums in Paris201soumettait à la condition première: que le compositeur entende réellement ce qu’il écrit et par conséquent que son oeuvre soit, sans doute possible, l’expres-sion authentique de sa propre voix.«142 Direkte stilistische Eingriffe in Schülerwerke vergleicht Boulanger mit der Unmög-lichkeit, aus einer anderen Nationalität einen Franzosen zu machen.143 Diese Äuße-rung ist nicht nur im übertragenen Sinn zu verstehen; sie trifft auch unmittelbar auf ihre Förderung der Stile nationaler Schulen zu, von denen ihre Schüler geprägt sind. So bestärkt sie auch Lipatti darin, sich auf seine originären kulturellen Wurzeln zu besinnen. Dabei konstatiert sie eine tiefe geistige Verwandtschaft zwischen George Enescu, mit dem sie am Conservatoire studiert hat, und Lipatti.144 Die Musikge-schichte beweise, dass die Besinnung auf eigene Traditionen keinesfalls einem musi-kalischen Universalismus widerspreche, so spüre man etwa, »que Brahms n’était pas napolitain, ni Monteverdi suédois.«145 Zu Boulangers Überzeugung trägt si-cherlich auch ihre eigene französisch-russische Herkunft bei. Markevitch, selbst rus-sisch-italienischer Komponist, sieht in ihrer Persönlichkeit einen konstruktiven Spannungszustand zweier kultureller Wurzeln: »Française par son père, Ernest Boulanger, de l’Institut, elle était russe par sa mère, née princesse Mychetsky, et on sentait en elle un conflit d’origines entretenant constamment une tension féconde.«146 Lipatti profitiert für seine persönliche Entwicklung entscheidend von dieser Überzeugung, die sich von der Paul Dukas’ maßgeblich unterscheidet. Doch der Kontakt zu Boulanger beinhaltet auch einen gesellschaftlichen Aspekt: Angebunden an das Analyseseminar vermitteln die legendären Mittwochskonzerte im Hause Boulanger nicht nur anschauliche Werkbetrachtung, sondern bilden auch einen bedeutsamen Zirkel der musikalischen Elite:147 »For nearly fifty years, the rue Ballu apartment became a sort of Mecca. The pilgrimages to it were interrupted only during the years of World War II.«148 Nadia Boulangers Analyseklassen sind zugleich eine wichtige Station bei der Protegierung junger aufstrebender Künstler. In zahlreichen arrivierten Kreisen ist sie Konzertorganisatorin, etwa bei Henri und Isabelle Gouin, Count Jean de Beaumont, im aristokratischen Cercle Interallié oder in der Reihe der Morgenkonzerte des Hotels Georges V.149 Die entscheidende Be-142Menuhin, Yehudi: Témoignages, in: A.a.O., S. 128; »Der eigene Stil eines Werkes stand für sie nie zur Disposition, in dem Moment, wo jede Note sich in die Ordnung einfügte, eine Botschaft transportier-te und sich der obersten Bedingung unterordnete: Dass der Komponist wirklich hört, was er schreibt und sein Werk folglich ohne jeden Zweifel der authentische Ausdruck seiner eigenen Stimme ist.« 143Vgl. Monsaingeon, 1983, S. 62.144Vgl. a.a.O., S. 79.145Laut a.a.O., S. 62; »dass Brahms kein Neapolitaner war und Monteverdi kein Schwede.«146Markevitch, 1980, S. 133; »Französin durch ihren Vater, Ernest Boulanger, vom Institut, war sie Rus-sin durch ihre Mutter, geb. Princesse Mychetsky, und man merkte ihr einen Konflikt der Abstam-mung an, der eine beständige fruchtbare Spannung aufrecht hielt.« 147Vgl z. B. a.a.O., S. 134. 148Spycket, 1992, S. 55.149Vgl. a.a.O., S. 84.