3.2 Französische Einflüsse während des Studiums in Paris203In gemeinsamen Einspielungen der Walzer und Liebesliederwalzer von Brahms 1937 zeigt sich die künstlerische Übereinstimmung von Boulanger, Lipatti und Cuénod.157 Der Kontakt zu Nadia Boulanger wird durch den Ausbruch des Zweiten Welt-krieges und beider Ausreise aus Frankreich zunächst gelöst, bricht jedoch nie ganz ab und intensiviert sich wieder, als Boulanger 1946 aus den USA zurückkehrt und Lipatti bereits in Genf lebt.Nach seiner Rückkehr nach Rumänien widmet Lipatti 1939 Boulanger seine erste dort fertiggestellte Komposition, die er möglicherweise noch in Paris konzipiert hat, das Concerto pour orgue et piano.158 Durch das Studium bei Boulanger gelingt Lipatti der kompositorische Durch-bruch. Er findet hier eine schlüssige Fortsetzung der in Bukarest begonnenen Stu-dien-Ansätze und spürt seine eigene Haltsuche in gültigen Traditionen und ästheti-schen Maßstäben bestätigt, ebenso wie die Orientierung, die er vor allem als Inter-pret, aber auch kompositorisch an der Musik J. S. Bachs findet: »Nadia Boulanger nous disait toujours quand on travaillait: ›Retournez-vous plutôt vers Bach, que vers les Romantiques‹.«159 Nach den kurzen Erfahrungen mit den divergierenden Auffassungen Dukas’ und Strawinskys vermittelt ihm Boulanger ein integrales Bild nicht nur der französi-schen Musikentwicklung, deren Perspektive auch randeuropäische Strömungen einschließt. Für Lipattis Suche nach einer Musiksprache, die sich an historische Vor-bilder anschließt und darüberhinaus zwischen seinen rumänischen und französi-schen Kulturkreisen vermittelt, bedeutet dies eine richtungsweisende Fortsetzung seiner in Rumänien begonnenen Arbeitsweise, die dort bereits europäisch, vor allem frankophil geprägt war. Somit bringt das Studium für ihn nicht nur eine Präzisierung seiner Auffassung eines »style français«, sondern schärft auch, nun aus der Distanz, seinen Blick für die Kompositionsweise, die er als »style roumain« oder »style populaire« bezeich-net, und die für ihn das rumänische Idiom beinhaltet. Aus diesen beiden Perspekti-ven und deren Vereinigung resultiert letzten Endes sein eigener Personalstil, dessen Anfänge sich in den bei Boulanger entstandenen Werken zeigen, darunter Concerti-no en style classique, Fantaisie pour violon, violoncelle et piano, Toccata pour orchestre de chambre, Trois danses pour deux pianos, Symphonie Concertante, Quintette à vent und Nocturne (en fa# mineur).157Erschienen auf der CD EMI 5 66425 2; die anderen Interpreten sind Comtesse Jean de Polignac (So-pran; nicht zu verwechseln mit der Princesse de Polignac), Irène Kedroff (Alt), Doda Conrad (Bass); mit den Liebeslieder-Walzern setzt Boulanger nach ihrer mit dem Grand Prix du Disque ausgezeich-neten Einspielung der Madrigale Monteverdis ihre Aufnahmetätigkeit fort.158Vgl. IV.2.3.2 »Concerto pour orgue et piano«.159Brief vom 22.07.1935 an Mihail Jora, zit. nach Bărgăuanu / Tănăsescu 1991, S. 44; »Nadia Boulanger sagte uns immer bei der Arbeit: Kehren Sie vielmehr zurück zu Bach als zu den Romantikern.«