204Direkte Einflüsse auf Lipatti3.3 Verzahnung von interpretatorischer und kompositorischer Arbeit bei Lipatti Die ästhetische Auseinandersetzung um den Neoklassizismus beinhaltet auch Aspekte der Aufführungspraxis. Scherliess verweist auf die häufige Personalunion von Interpret, Komponist und Musikhistoriker, in der sich das Forschungs-, Auffüh-rungs- und Verarbeitungsinteresse bündelt. Beispiele sind etwa Gian Francesco Ma-lipiero als Herausgeber der Monteverdi-Gesamtausgabe, Ottorino Respighi oder Nadia Boulanger. Bei ihnen verschmelzen neoklassizistische Kompositionsweise mit Quellenkritik und Suche nach Quellenauthentizität und steht das Bemühen um ein klares Bild dieser alten Musik im Vordergrund.160 Durch die beginnende techni-sche Reproduzierbarkeit werden diese Leitbilder zudem als Ideal festgehalten und verbreitet. Nur durch den hohen Bekanntsheitsgrad alter Werke wird in vielen Fäl-len historische Bezugnahme erst offensichtlich, was eine Voraussetzung für das kompositorische Verständnis ist. Der Dirigent Heinz Holliger bezeichnet die Ba-rockauffassung der 20er Jahre als »wie mit dem Lineal gespielt, ohne ein Rubato, steckengerade, […] als etwas fast Artifizielles, Maschinelles«,161 ein ästhetisches Ideal der Sachlichkeit. Die Wechselwirkung zwischen Interpret und Komponist in Personalunion spie-gelt sich auch in Lipattis Schaffen wider. Seine Kritik an Konzertprogrammen, die Zeitgenössisches wie Unbekanntes aus dem 16. und 17. Jahrhundert konsequent aussparten162 ist sicherlich auch von seinem Studium bei Nadia Boulanger beein-flusst. Lipattis Interpretationen sind von Sachlichkeit geprägt und lösen sich ent-schieden von romantischen Idealen. In ihnen zeigt sich eine Verpflichtung zur Werktreue, die jedoch im Gegensatz steht zu Maximen der historischen Auffüh-rungspraxis, wie sie zeitgleich z. B. von der Cembalistin Wanda Landowska vertre-ten werden.163 Zwar stimmt Lipatti in dem Punkt der Überwindung des künstleri-schen Virtuosentums mit ihr überein, hält ihre Interpretationen jedoch nicht für au-thentisch im Sinne der kompositorischen Idee, da er die Ausdruckspotenziale des Cembalos als anachronistisch empfindet angesichts des über seine Zeit hinauswei-senden Kompositionsgehaltes: »Toute vraie et grande musique dépasse son temps et, plus encore, n’a jamais correspondu aux cadres, formes et règles en vigueur à l’époque de sa création. Bach dans ses oeuvres d’orgue réclame l’orgue électrique et ses moyens illimi-tés, Mozart réclame le piano et s’éloigne carrément du clavecin, Beethoven exige impérieusement notre piano moderne, Chopin, l’ayant, lui donne le pre-mier de la couleur, et Debussy va plus loin en présentant à travers ses Pré-160Vgl. Scherliess, 1998, S. 57f.161Zit. nach a.a.O., S. 56.162Vgl. Lipatti, Dinu: Konzertkritik vom 20.05.1939 in der Libertatea, Bukarest, in: Bărgăuanu / Tănăse-scu, 1991, S. 240.163Vgl. z. B. Schonberg, Harold: Die großen Pianisten. Eine Geschichte des Klaviers und der berühmtes-ten Interpreten von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bern / München 1965, S. 389ff.