3.3 Verzahnung von interpretatorischer und kompositorischer Arbeit205ludes les ondes Martenot. Dès lors, vouloir restituer à la musique son cadre de l’époque c’est vouloir habiller un adulte dans des habits d’adolescent.«164 Maßgeblich für Lipatti ist in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen dem reinen Notentext und den Intentionen des Werkes: »›Urtext‹ (le texte original)? Oui, c’est très important. Mais le ›urspirit‹ (l’esprit original) est encore plus impor-tant pour une interprétation vraie.«165 Damit ist eine Divergenz angesprochen, die Scherliess in der Unterscheidung zwischen »›Stiltreue‹ statt ›Werktreue‹«166 aus-drückt, und in der Erstere Forderungen berücksichtigt, die der Text zwar nicht no-tiert, doch kontextuell impliziert. In diesem Sinne lassen sich markante Beispiele in Lipattis eigenen Interpretationen finden: Bărgăuanu und Tănăsescu belegen etwa einen in Nuancen revidierenden Umgang mit dem Notentext im Bemühen einer Annäherung an den vom Komponisten intendierten Ausdrucksgehalt exemplarisch anhand einer geradezu frappierenden Entdeckung in der Übereinstimmung Lipattis mit den Intentionen Chopins am Beispiel des Nocturne Des-Dur op. 27 Nr 2.167 Sie betrifft die Auslegung Lipattis in Bezug auf die Dynamik, da er die dritte Wieder-kehr des Themas in Takt 46 in apotheotischem Forte spiele, obwohl der Text diminu-endo und dolce vorsehe. Erst in den achtziger Jahren seien Quellen veröffentlicht worden, die eine Veränderung der Urtext-Edition hin zu einem fff an dieser Stelle164Lipatti, Dinu: Ébauche d’un projet pour un cours d’interprétation au Conservatoire de Genève, 1955; »Alle wahre und große Musik überholt ihre Zeit und, mehr noch, hat niemals den Rahmen, Formen und Regeln entsprochen, die zur Zeit ihrer Entstehung in Kraft sind. Bach in seinen Orgelwerken er-fordert die elektrische Orgel und ihre unbegrenzten Möglichkeiten, Mozart erfordert das Klavier und entfernt sich entschieden vom Cembalo, Beethoven erfordert unbedingt unser modernes Klavier, Chopin, der es hat, gibt ihm als erster Farbe, und Debussy geht weiter, indem er durch seine Préludes das Ondes Martenot präsentiert. Will man also die Musik in den Rahmen ihrer Epoche stellen, so hie-ße das, einen Erwachsenen in die Kleider des Jugendlichen kleiden zu wollen.« Lipatti fährt fort, die-se Überlegungen seien ihm beim Nachdenken über das Erstaunen gekommen, das er auf einem Festi-val hervorgerufen habe, als er das Konzert in d-Moll von Mozart mit Beethovens Kadenz zu diesem Werk gespielt habe: »Certes, on sentait que les mêmes thèmes venaient autrement sous la plume de Beethoven que sous celle de Mozart. Mais là résidait justement l’intérêt de cette intéressante confron-tation entre deux personnalités si différentes. J’aime mieux vous dire qu’à part quelques esprits libres personne n’a rien compris à ce mariage et que tout le monde me soupçonnait d’avoir écrit cette bien vilaine et anachronique cadence!« »Sicher, man spürte, dass dieselben Themen unter der Feder Beethovens anders kamen als unter der Mozarts. Aber darin lag gerade das Interesse dieser inter-essanten Konfrontation zwischen diesen beiden so verschiedenen Persönlichkeiten. Ich sage Ihnen lieber, dass außer einigen frei denkenden Geistern niemand etwas angesichts dieser Vereinigung ver-standen hat und dass alle Welt mich in Verdacht hatte, diese recht unschöne und anachronistische Kadenz geschrieben zu haben!«165Zit. nach Bărgăuanu / Tănăsescu, 1991, S. 147; »’Urtext‹ (der Original-Text)? Ja, das ist sehr wichtig. Aber der ›Urspirit‹ (der Original-Gedanke) ist noch viel wichtiger für eine wahre Interpretation.« Siki betont jedoch den äußerst sensiblen Umgang Lipattis mit Urtext-Änderungen, indem er von dessen Zorn auf eine Schülerin berichtet, die ein Vorzeichen geändert hatte mit den Worten, es klänge bes-ser: »This is the Bible! You cannot change an iota of it!« (Siki, 1961, S. 236). 166Scherliess, 1998, S. 271.167Vgl. CD EMI CDH 7 69802 2.