206Direkte Einflüsse auf Lipattiveranlasst hätten.168 Dies deutet entweder auf eine außergewöhnlich gewissenhafte Erforschung der Quellenlage hin oder aber auf eine Affinität in der Auffassung der Komposition wie sie intendiert ist. Beides kann wohl als Ausdruck ungewöhnlicher Qualitäten im Hinblick auf das Bemühen um Authentizität und das Interesse an der Idee des Komponisten gelten. Enescu bestätigt als Komponist die interpretatorischen Fähigkeiten Lipattis, in-dem er seine Klaviersonaten vorzugsweise durch Lipatti aufführen lässt mit der Be-gründung, er traue sich selbst keine authentischere Wiedergabe zu.169 Legge hebt als Tonmeister und Produzent von Lipattis Interpretationen deren Qualität in der Verbindung von historischem und gegenwärtigen Sinngehalt hervor: »He aimed at presenting the music of other periods in such a way that it would have for us today the vitality and significance it had had for the composer and his contemporaries.«170In persönlichen Äußerungen Lipattis, in der Auswahl von Werken für seine In-terpretationen und auch Transkriptionen zeigen sich auch kompositorische Neigun-gen Lipattis. Für die neoklassizistische Orientierung Lipattis gewinnen vor allem die Kompositionen von Bach und Scarlatti, aber auch von Mozart und Haydn an Be-deutung. Die Rezeption dieser Werke ist eine dreifache der Interpretation, Tran-skription und der kompositorischen Inspiration. Als erklärter Gegner der historischen Aufführungspraxis orientiert sich Lipatti in seinen Bach-Interpretationen an Strenge und Durchsichtigkeit der kompositorischen Linienführung, doch sie sind in diesem Sinne auch Spiegel des schöpferisch-neuen Umgangs: Für die Einstudierung des Klavierkonzertes wie auch anderer Bachwerke wählt Lipatti die Farbigkeit der Busoni-Bearbeitung, die den Solopart an exponier-ten Stellen durch Oktavverdopplungen stützt. Der erhaltene Mitschnitt dieses Kon-zerts171 betont die Linearität bei allen melodischen Gegensätzen zwischen figurati-ver Verspieltheit und schlicht gehaltenem Ernst und zeigt überraschende, doch sehr sparsam platzierte Ausschöpfung dynamischer Extreme. Prinzipien der Konzentration auf den ›absoluten‹ musikalischen Gehalt im Sinne Busonis172 finden sich etwa in dem zu der Zeit verbreiteten Verfahren der Choral-bearbeitung für Klavier, das auch Lipatti anwendet. Durch den Verzicht auf den Text reduziert sich der vorher vokal transportierte religiöse Gehalt auf eine geistige168Vgl. Bărgăuanu / Tănăsescu, 1991, S. 151; laut den Autoren handelt es sich um handschriftliche Noti-zen von Chopin in den Notenexemplaren seiner Schwester Louise Jedrzejewicz (angemerkt in der Ausgabe des »Nocturne« im Henle Verlag, 1980) und seiner Schülerin Jane Stirling (vgl. den Nach-druck des Manuskripts der Bibliothèque nationale de Paris, 1982), sowie um eine Deutungsweise des Chopin-Freundes Julian Fontana, die in der Veröffentlichung von J.-J. Eigeldinger, Chopin vu par ses élèves, Neuchâtel, 1988 thematisiert werde. Zu Lipattis Chopin-Interpretationen vgl. auch Hoffman, Alfred: Un grand interprète roumain de la musique de Chopin : Dinu Lipatti, in: Lissa, 1960, S. 438–443.169Vgl. bezogen auf Enescus Sonate Nr. 1: Bărgăuanu / Tănăsescu, 1991, S. 51; vgl. bezogen auf Sonate Nr. 3: Tănăsescu, 1957, S. 136.170Legge, 1951, S. 195.171Mitschnitt vom 02.10.1947, Concertgebouw Orchestra Amsterdam, Eduard von Beinum, CD EMI 5 67572 2.172Vgl. III.2.5.1.2.4 »Neoklassizistische Verfahrensweisen«.