210Aspekte des kompositorischen OEuvres und der Werkanalyse»Die Virtuosität gibt dir genug Freude, aber [nur] für kurze Zeit. Du arbeitest z. B. Monate am Programm eines Recitals, spielst es am festgelegten Tag und nach ein, zwei Wochen bist du schon nicht mehr ›in Form‹. Was die Kom-position betrifft, so ist dies anders: das, was du schreibst, bleibt für immer. Und was die Reife der Interpretation und das tiefe Verständnis der Musik angeht, so kannst du beides erreichen, ohne allzu oft gespielt zu haben. Mit einem Wort: jetzt fühle ich mich vollkommen der Komposition zugewandt.«3 Bemerkenswert sind im Vergleich zu den enorm langen Vorbereitungszeiten seiner Klavierinterpretationen die ausgesprochen kurzen Entstehungszeiten der meisten Kompositionen. Sie werden oftmals innerhalb weniger Wochen fertig gestellt, die Sonatine pour piano (main gauche seule) sogar innerhalb von zwei Tagen. Dies vermit-telt eher den Eindruck spontaner Inspiration und innerer Notwendigkeit des Kom-ponierens als den eines Reifungsprozesses langer Zeiträume.Lipattis OEuvre hat seine kompositorischen Wurzeln vorwiegend in der rumäni-schen und der französischen Musikentwicklung. Die Bedeutung der Einflussgrößen macht Lipatti, der nur wenige Informationen zu seinen Kompositionen hinterlässt, selbst durch Untertitelungen kenntlich, indem er neun Werke mit den Attributen ei-ner nationalen Zuordnung versieht: Die Sonatine pour violon et piano, Șătrarii, das Nocturne (Thème moldave), die Sonatine pour piano (main gauche seule) und die Danses Roumaines werden durch Titel, Zusatzbezeichnung oder weitere Charakterisierun-gen rumänisch eingeordnet, was Șoarec veranlasst, den meisten von Lipattis Wer-ken einen »caracter românesc«4 und »stil național«5 zuzuweisen. Französische Ein-flüsse werden, da das unbekannte Concertino en style français nicht vergleichend her-angezogen werden kann, explizit nur in den Trois Nocturnes français benannt. Die Chansons und Mélodies zeigen sich jedoch eindeutig als französische Liedgattungen und vertonen französische Lyrik. Das Concerto pour orgue et piano, das ebenfalls Be-züge zu französischer Lyrik aufweist, schlägt den Bogen hin zum Neoklassizismus als bedeutender französischer Kompositionsrichtung, die spätestens seit Lipattis Studium bei Boulanger und Strawinsky sein Werk maßgeblich bestimmt, explizit so benannt in seinem in Paris komponierten Frühwerk Concertino en style classique. Nicht ohne Grund also beurteilt Marco Vincenzi im Gegensatz zu Șoarec französi-sche Stilelemente als prägend für Lipattis Gesamtwerk, ausdrücklich auch für die rumänisch inspirierten Werke.6 Damit stellt sich die Frage nach der Bedeutung bei-der Richtungen für Lipattis OEuvre und die Herausbildung seines Personalstils.3Brief vom 14.08.1935 an Miron Șoarec, Șoarec, 1981, S. 42; »Virtuositatea îți dă destule bucurii dar pentru scurt timp. Lucrezi luni de zile programul unui recital de exemplu, cînți în seara hotărîtă și apoi după o săptămînă, două, iar nu mai ești ›în formă‹. Pe cîtă vreme cu compoziția e altceva: ce lu-crezi rămîne pentru totdeauna. Iar cît privește progresul în interpretare, în înțelegerea cît mai profun-dă a muzicii, asta poți s-o realizezi și fără să cînți prea des. Într-un cuvînt: acum sînt cu totul înclinat către compoziției.« 4Șoarec, 1981, S. 90. 5Ebd.6Vgl. Vincenzi, 2001, S. 2.