2Werkanalysen2.1 Frühe Werke der Stilorientierung im Sinne der nationalen Schule und des Neoklassizismus2.1.1 Ausgangspunkt rumänische Nationalschule: Șătrarii op. 2Lipattis Entwicklung eines »Style roumain« lässt sich von der Sonatine pour violon et piano (1933) und der Suite Şătrarii (1934) über das Nocturne (Thème moldave) (1937) und die Sonatine pour piano (main gauche seule) (1941) bis zu den von neoklassizisti-schen Elementen durchdrungenen Danses Roumaines (1943/45) verfolgen. Lipattis erste mit Opuszahlen versehenen Kompositionen, Sonatine pour violon et piano op. 1 und die symphonische Suite Şătrarii op. 2, sind Ausdruck einer beginnen-den Identifikation mit der rumänischen nationalen Schule. Sie entstehen unmittel-bar nach Abschluss seiner Ausbildung bei Mihail Jora und finden mit dem zweiten und ersten Preis beim Enescu-Kompositionswettbewerb die öffentliche Anerken-nung im Sinne dieser Nationalschule.Angestoßen durch Jora, der einen neoromantischen Stil in den frühen Werken Lipattis bemängelt hatte,1 verkörpern beide Werke das Bestreben, die rumänische Musikentwicklung zum Maßstab zu erheben und sich ihr zugehörig zu erweisen.2 Auch die Violinsonatine weist in ihrer lyrischen Anlage, ihren verminderten Ak-kord- und chromatischen Fortspinnungspassagen noch eine Nähe zum französi-schen Sonatenstil auf, wie er für Fauré im Übergang von der Spätromantik zur Mo-derne, z. B. in der Violinsonate A-Dur, typisch ist, verbindet diese jedoch mit ein-deutig nationalstilistischen Ausdrucksmitteln aus dem Kontext der rumänischen Lăutari-Musik, etwa Andeutungen von Țiitură-Begleitstrukturen mit ihren markan-ten Alterierungen, sowie mit bitonaler und modaler Harmonik, die den tonalen Rahmen freier fasst und die Chromatik nicht mehr als ausschmückendes, sondern konstitutives Element verwendet.3 Ähnliche kompositorische Mittel, doch zudem verbunden mit der Semantik einer rumänisch-ländlichen Lebenswelt, kennzeichnen hingegen die Suite Şătrarii, die deshalb im Folgenden als Beispiel für die frühe na-tionalstilistische Ausprägung von Lipattis »Style roumain« vorgestellt werden soll.Şătrarii (»Wanderzigeuner«) ist nach der Violinsonatine Lipattis zweites bedeuten-des Werk und wendet sich nach der kammermusikalischen Form zum ersten und einzigen Mal dem Genre symphonischer Programmmusik zu. Beide Werke gehören 1Vgl. Tănăsescu, 1965, S. 18.2Vgl. Fußnote 447.3Zu der Sonatine vgl. auch III.3.1.1 »Mihail Jora als Lehrer Lipattis«.