214Werkanalysenderselben Entwicklungsphase an, in der Lipatti die Fundamente seines »Style rou-main« legt und klassisch-romantische Formen mit Spezifika rumänischer Volksmu-sik zu einer neuen Ausdrucksweise verbindet. Das Jugendwerk Şătrarii ist noch nicht repräsentativ für Lipattis erst im Laufe der folgenden Jahre erworbenen Perso-nalstil, doch es stellt durch eine entschiedene Musiksprache einen eigenständigen kompsitorischen Ausgangspunkt dar. Die Intention eines »rumänischen Stils« soll anhand einzelner Beispiele belegt werden, gefolgt von einer Darstellung des Kon-textes um das gewählte Sujet der »Wanderzigeuner«, die die Umstrittenheit eines solchen Topos in der rumänischen Schule erkennen lässt.Anstelle einer Detailanalyse und bezugnehmend auf bereits von Vancea, Băr-găuanu und Tănăsescu veröffentlichte kurze analytische Betrachtungen des Werkes möchte ich einen aspektbezogenen Überblick geben über:– die Einordnung dieses Werkes in den Kontext programmatisch verwandter Werke der nationalen Schule, erkennbar an kompositorischen Ausdruckselementen einerseits und an der Wahl des programmmusikalischen Sujets andererseits;– spezifische Gestaltungselemente, die einerseits Lipattis derzeitigen kompositorischen Standort verdeutlichen und sich andererseits im Verlaufe seiner weiteren komposito-rischen Entwicklung als bedeutungsvoll für seinen Personalstil und für sein späteres Werk erweisen.Şătrarii steht noch ganz in der Tradition spätromantischer, wenn auch mit impres-sionistischen und neoklassizistischen Mitteln erweiterter Programmmusik. Das zu Grunde liegende und in dieser Phase der rumänischen Nationalschule häufig ge-wählte Sujet der »Tziganes«4 wird in drei breit angelegten Sätzen illustrativ aus-komponiert: »Vin Şătrarii« (»Ankunft der ›Wanderzigeuner‹«) – »Idilă la Floreasca« (»Idylle am Floreasca-See)« – »Chef cu Lăutari. Beţie« (»Anführer mit Lăutari. Trun-kenheit und Rausch«). Die musikalische Tradition der Lăutari5 wird zum direkten Gegenstand und Material der Komposition, eingebettet in Darstellungen zugehöri-gen Brauchtums, angedeutet vor allem in Bewegungsabläufen: Das Unterwegs-Sein der »Fahrenden«, das Naturerleben am Wasser, das Fest mit Tanz und Trunkenheit, wobei der im Mittelsatz verwendete Begriff der »Idylle« bereits die bewusste Stili-sierung der Darstellung anzeigt. Wieweit Lipatti in dieser Komposition eigene mu-sikalische und persönliche Erfahrungen mit den Lăutari verarbeitet, die er sowohl in Bukarest als auch in Fundaţeanca gesammelt haben wird, kann nur gemutmaßt werden. 4So die Übersetzung von Şătrarii in den französischsprachigen Publikationen. Interessanterweise über-setzt Lipatti selbst den Titel jedoch mit »Bohemiens« (Brief vom 07.01.1937 an Nadia Boulanger, Muzica 4/2000, S. 57). Lediglich im Nachwort zu den Cinq Chansons findet sich die treffende französi-sche Übersetzung »Les Bohémiens nomades« (Moisescu, Titus (Version française par Constantin Sti-hi-Boos): Dinu Lipatti en tant que compositeur, in: Dinu Lipatti, Cinci Lieduri / Cinq Chansons, Bu-karest Editura Muzicală 1985, S. 45).5Vgl. III.1.3 »Die Lăutari«.