2.1 Frühe Werke der Stilorientierung239Im Concertino en style classique zeigt sich ein stilimitierender, gleichermaßen klassischer wie barocker Rückbezug bis zum quasi-Zitat, wie er so ausgeprägt nur noch in wenigen Passagen späterer Werke auftritt. Stoianov benennt die Nähe zu den kompositorischen Vorbildern: Die einzelnen Sätze »mit dem Schattenriss von Bach, mit Prägnanz die Formung musikalischer Ideen wie bei Mozart, die Eleganz des Rokoko, aber auch die Schlichtheit und der Humor Haydnscher Prägung andeutend«.69 Charakteristika alter Musik werden modellhaft aufgegriffen und wiederbelebt in einer Weise, die gerade durch die bis ins Detail ausgefeilte Nach-modellierung einen zeigenden Gestus und dadurch eine subtile Distanz zum histo-rischen Original gewinnt. Im Trio hingegen wird der offene Bruch der aufgebauten klanglichen Retrospektive auskomponiert und zeigt gerade dadurch wiederum, dass eine Retrospektive aus späterer Sicht vorliegt. In Anbetracht von Lipattis großer Vorliebe als Pianist für die Werke Bachs und Mozarts ist anzunehmen, dass diese stilistische Annäherung auch als eine Homma-ge an die historischen Persönlichkeiten, deren unverbrauchte Zeitlosigkeit aufzei-gend, aufzufassen ist. Lipattis pianistische Erfahrung wirkt auf dieses Werk unmit-telbar inspirierend. Die klangliche Spezifik der einzelnen Sätze lassen Lipattis inter-pretatorische Erfahrungen erkennen. Cortots Feststellung, der Pianist Lipatti »ne se contentait pas de jouer les textes – […] il leur restituait, par une sorte d’interpénétra-tion instinctive […]. C’était l’auteur lui-même qui nous faisait communication de son oeuvre«,70 lässt sich in der Komposition deutlich nachvollziehen. Entsprechen-des gilt für Lipattis in Kapitel II.3.3 dargestellten und im Concertino en style classique kompositorisch genutzten Fähigkeiten der Improvisation »im Stil von«.71 Wie in keinem anderen Werk Lipattis werden seine Improvisationskünste hier unmittelbar kompositorisch verarbeitet. Und nicht zuletzt zielt das Concertino en style classique, bestätigt durch die Widmung an seine Klavierprofessorin, auf pianistische Virtuosi-tät. Als erstes Solokonzert für sein eigenes Instrument, nach einem Schülerwerk (1932), einer an romantischen Vorbildern angelehnten, noch nicht mit einer Opus-zahl versehenen Klaviersonate, bildet es den Auftakt zu einem pianistischen Schwerpunkt in Lipattis Gesamtwerk.In dieser fast prototypisch modellhaften Verarbeitung, die von der Aneignung vor allem der Klavierliteratur früherer Komponisten zeugt, steht die handwerkliche Präzision im Mittelpunkt. Die verfremdenden Ideen als Ausbruch aus der histori-schen Klangwelt finden sich, wie im Trio des dritten Satzes, noch blockhaft separiert und weniger stark gewichtet.Im Gegensatz zu Lipattis späteren neoklassizistischen Werken, in denen er vor allem den formalen Rahmen nutzen wird, um darin eine persönliche Sprache zu entwickeln, zeigt sich das Concertino en style classique, ebenso wie die Toccata, 69Stoianov, 2001, S. 95; »cu umbra lor declarat bachiană, se fac simţite cu pregnanţă o ideatică mozartiană, eleganţa rococoului, dar şi simplicitatea sau umorul haydniene«.70Cortot, Alfred: Hommage, in: M. Lipatti, 1970, S. 56 »begnügte sich nicht damit, die Werke zu spie-len – […] er ließ sie wiedererstehen durch eine Art von instinktiver gegenseitiger Durchdringung […]. Es war der Urheber selbst, der uns sein Werk vermittelte«. 71Vgl. II.3.3 »Künstlerische Kontinuitäten«.