240Werkanalysenzugehörig zu einer frühen Phase eines noch stilimitierenden Neoklassizismus, den Lipatti aus diesem Grund wohl auch nicht als »néoclassique«, sondern historisierend als »classique« bezeichnet. Beide Kompositionen, wie auch die 1938 komponierte Symphonie concertante, beziehen sich auf Gattungstypen des frühen 18. Jahrhunderts, also der »klassischen« Zeit im französischen Musikverständnis, wie es typisch für diese Phase des Neoklassizismus ist.72 Die Tatsache, dass es sich um Kammerorchester handelt, entspricht ebenso der für den Neoklassizismus kenn-zeichnenden Reduzierung der Mittel, wie sie auch durch den eingeschränkten Or-chesterapparat der École Normale für interne Aufführungen vorgegeben wird. Lipattis frühere Bezeichnung des Concertino als Suite classique verdeutlicht zudem die Offenheit dieses Werkes: Während der Gattungsbegriff der Suite den Schwer-punkt auf die Unabhängigkeit der Sätze voneinander legt, die stilistisch und cha-rakterlich auf verschiedene historischen Phasen Bezug nehmen, betont die Bezeich-nung Concertino das Soloinstrument.Das Concertino en style classique ist nicht kompositorisch neuartig, aber aussage-kräftig in Bezug auf Lipattis Arbeitsweise, wie sie auch für seine späteren, von sei-nem persönlichen Stil gekennzeichneten, reiferen Werken gilt. Dazu zählen die wechselnde Behandlung des Klaviers als Solo-, obligates, mit den Orchestersolisten dialogisierendes Instrument, geradlinige Entwicklungsprozesse und klare, an Peri-odizität angelehnte Gliederung, die innere und äußere Geschlossenheit anstrebt, fu-gale Durchführungen und Sonatensatz, rhythmisch-metrische Anordnungen, die an barock pulsierender Motorik ebenso orientiert sind wie an Konfliktrhythmen und dem Spiel mit metrischen Verschiebungen – Komponenten, in denen sich Lipattis Affinität zu bestimmten Komponisten, vor allem zu Bach, Haydn oder Mozart und auch zum neoklassizistischen Vorbild Strawinsky oder auch zu Prokofjews Symphonie classique ausdrückt, im Titel jedoch nicht namentlich benannt, wodurch – im Gegensatz etwa zu Strawinskys Orchestersuite Pulcinella – keine unmittelbare Verpflichtung einer bestimmten Materialgebundenheit besteht; die für Lipatti stilbegründenden Mittel werden im Bereich von Form, Entwicklung, Melodik, Tonalität und Rhythmus verarbeitet. Zu diesem Streben nach Klarheit des knapp 20jährigen Lipatti in der für ihn neu-en Kompositionsweise gehört auch die Suche nach möglichst konkreter Anleitung, wie er sie während seines Studiums in Rumänien gewohnt war. Die Entschieden-heit, die zuvor in den im Stil der rumänischen Nationalschule komponierten Wer-ken deutlich wurde, erschließt sich hier mit derselben Eindeutigkeit ein völlig neues Feld mit einer Systematik, die nicht die Kriterien von Originalität und selbstständi-gem Erfindungsreichtum in den Mittelpunkt stellt, sondern die Perfektion einer Stil-treue intendiert. Lässt man diese Prämissen außer Acht und betrachtet dieses Früh-werk zudem als repräsentativ für Lipattis kompositorisches Gesamtwerk, kommt es zu Aburteilungen wie: »Die explizit konservative, in Ausdruck und Wirkung etwas72 Vgl. auch Scherliess, 1998, S. 219.