2.1 Frühe Werke der Stilorientierung241wässrige Versuchsanordnung im klassischen Concertino […] gemahnt an ähnlich ehrgeizige, im Ergebnis aber auch ähnlich lauwarme Versuche vieler Komponisten der sogenannten zweiten und dritten Garnitur«.73 Zum Vergleich nennt der Rezen-sent Suk und Weiner und schreibt weiter: »in diesem Stück mit seinen zaghaften, bisweilen auch etwas larmoyanten Erwägungen mangelt es ebenso wie in den bei-den Nocturnes an Prägnanz der Themenstellung, an Kräften des musikalischen Für und Wider«.74 Wie in den ersten Werken seines rumänischen Stils steht im Concertino en style classique zunächst die korrekte Aneignung im Mittelpunkt. Die enge kompositori-sche Nähe von Şătrarii zu Werken Joras findet sich hier übertragen auf die histori-schen und neoklassizistischen Vorbilder. Im Concertino en style classique spiegelt sich der musikalische Lernprozess innerhalb eines für Lipatti nicht unproblematischen kulturellen und personellen Wechsels, dessen Durchlaufen sich auch in seiner Kor-respondenz niederschlägt und bereits in der Biografie angesprochen wurde. In der Person Boulangers findet Lipatti nach der für ihn weniger fruchtbaren Anfangszeit bei Dukas eine Lehrerin, die, verstärkt durch die Zusammenarbeit mit Strawinsky, in Bezug auf den Neoklassizismus auf eine Vorgehensweise mit klaren Ordnungs-prinzipien setzt und in ihrer historischen Bezugnahme auf ein Regelsystem, das durch den Rückgriff auf Bewährtes Gültigkeit beansprucht. Gleichzeitig erstrebt sie für ihre Schüler deren kompositorische Individualität – in Bezug auf Lipatti ganz klar auf dessen rumänische Herkunft als musikalische Identität angelegt.Selbst in dem noch eindeutig historisierenden neoklassizistischen Concertino en style classique zeigen sich bereits im dritten Satz und in leichten Andeutungen im Fi-nalsatz subtile Ansätze einer Verknüpfung mit Motiven aus der rumänischen Volksmusik. Daran wird deutlich, dass der Gedanke der Synthese beider musikali-scher Welten nicht erst während Lipattis Arbeit an späteren, ausgeprägt stilistisch vermittelnden Werken entsteht, sondern dass dieses Anliegen als Keim von Beginn an vorhanden ist und, sich weiter entwickelnd, zum Schwerpunkt erhoben und mit der Zeit entschiedenere und bewusst in die eine oder andere Richtung weisende Züge tragen wird.Ein mutmaßliches Gegenstück oder eine Fortsetzung findet das Concertino en style classique im Concertino en style français (1939–1941) für dieselbe Besetzung, das Lipatti in Rumänien komponiert. Leider ist das Manuskript verschollen, so dass kein Vergleich beider Werke möglich ist.Das Concertino en style classique gehört zu den am stärksten rezipierten Werken Lipattis. Das wirkt sich zugleich problematisch aus in Bezug auf die Rezeption des Gesamtwerkes, wenn es stilistisch mit diesem Werk gleichgesetzt wird. Der Pariser 73Cossé, 2001, S. 67.74Ebd; die Rezension bezieht sich auf die CD »Dynamik« S 2037 des Lipatti-Interpreten und -Forschers Marco Vincenzi, der seit Jahren kontinuierlich an der Rezeption von Lipatti als Interpret wie Kompo-nist gleichermaßen arbeitet. Dennoch kann die Auswahl der Werke auf dieser CD, die vor allem Bach-Transkriptionen und Frühwerke umfasst, zu der Annahme führen, das kompositorische Ge-samtwerk reduziere sich auf diesen Schwerpunkt, so dass die Problematik obiger Gesamturteile auch in der mangelnden Zugänglichkeit und damit Berücksichtigung der Hauptwerke Lipattis liegen mag.