2.2 Weitere Entwicklungsphasen des »style roumain«243Vordergrund steht nun eine möglichst neutrale Darstellung der klanglichen Mittel und ihrer Ausdrucksmöglichkeiten. Beide Werke verdeutlichen Lipattis Zielebenen zu dieser Zeit mit ihrem unterschiedlichen nationalen Hintergrund: Die romantischen Ausläufer seiner rumänischen Vorbilder und das neoklassizistische Ideal, das ihm intensiv in Frankreich bei Boulanger begegnet. Insofern handelt es sich hier sehr wohl um frühe Stadien eines »style roumain« und eines »style français«, ungeachtet der Tatsache, dass spätere Werke Lipattis im rumänischen Stil durchaus neoklassi-zistische Züge tragen und umgekehrt seine in den 40er Jahren komponierten französischen Cinq Chansons und Quatre Mélodies wie auch die von ihm kompo-nierten Klaviernocturnes den französischen Neoklassizismus aussparen.Der Unterschied zwischen beiden Kompositionen ist eklatant, und doch zeugen auf fast amüsante Weise zwei Briefe Lipattis an Boulanger davon, wie wenig ihm selbst zu dieser Zeit der Kontrast bewusst zu sein scheint: Boulanger teilt ihm mit, sie wolle seine Suite aufführen und bittet um Aufführungsmaterial. Obwohl zu diesem Zeitpunkt seine gerade fertig gestellte Suite classique aktuell ist, fragt Lipatti sachlich nach, welche sie meine, er habe zwei verschiedene geschrieben, und schickt ihr das Material von Şătrarii, da das andere noch nicht fertig kopiert sei79 – obwohl es meines Erachtens vor dem Hintergrund der Kompositionsideale Boulangers kaum vorstellbar ist, dass sie eine Aufführung von Şătrarii plant.80 Es handelt sich durchaus um Werke, bei denen eine Verwechslung oder Gleichsetzung aus heutiger Sicht sonderbar zu sein scheint.2.2 Weitere Entwicklungsphasen des »style roumain«2.2.1 Nocturne (Thème moldave)Das Nocturne (Thème moldave) entsteht zur Zeit des Pariser Studiums während eines Aufenthalts in Rumänien. Lipatti vermerkt auf dem Manuskript »Novembre 1937«, zusammen mit der Widmung »À mon maître Michel Jora«.81 Lipattis Freund Miron Șoarec schildert anekdotisch die Inspirationsquelle für das Nocturne (Thème moldave): »In den Ferien des Jahres 1937 haben wir uns an einem Tag bei Dinu an Mo-mente der Kindheit erinnert und schließlich Colinde82 gesungen. Er hat mir 79Vgl. Brief vom 07.01.1937 an Nadia Boulanger, Muzica 4/2000, S. 57f. Vermutlich ist es zu dieser Aufführung nicht gekommen, da es keine weiteren Erwähnungen dazu gibt. 80Zudem schreibt Lipatti ihr kurz vorher (Brief vom 24.11.1936 an Nadia Boulanger, Muzica 4/2000, S. 56): »Pour le moment je n’ai qu’un seul désir: celui d’achever les anciennes choses, c’est à dire la Toccata et la Suite classique.« »Im Moment habe ich nur den einen Wunsch: die alten Sachen fertig zu stellen, nämlich die Toccata und die Suite classique.« 81Ich entnehme die Anmerkungen der abgedruckten Fassung, die Șoarec, in dessen Besitz sich das Ma-nuskript befand, in seinem Buch als Anhang veröffentlicht: Șoarec, 1981, S. 105–111. 82Zeremonielle Weihnachtslieder, vgl. III.1.5.3 »Colinda«.