2.2 Weitere Entwicklungsphasen des »style roumain«245verwandtschaftliche Bezüge hinaus kein Hinweis auf das Originalthema gegeben werden kann, beziehe ich mich bei der folgenden Analyse ausschließlich auf das musikalische Thema Lipattis, wie er es in den ersten sechs Takten vorstellt; welche Kennzeichen der ursprünglichen Volksmelodie entstammen, bleibt letztendlich spe-kulativ.Analytisch bietet das Nocturne (Thème moldave) ambivalente Deutungsansätze:– Das Nocturne (Thème moldave) ist eine der wenigen Kompositionen Lipattis, in der ein explizit benanntes und in der Herkunft belegtes volksmusikalisches Thema direkt verarbeitet wird. Nach der in Kapitel III.2.6.1.1 vorgenomme-nen Kategorisierung nach Szabolcsi handelt es sich um eine »komplizierte Volksliedbearbeitung«87 und verweist damit auf Lipattis Entwicklung eines »style roumain«. – Die Verarbeitung des musikalischen Themas geschieht im Sinne der französi-schen Gattung des Nocturne. Mit der erstmaligen Verwendung dieser Gat-tung, der weitere Nocturnes folgen, ließe sich die Komposition daher auch in den Kontext des »style français« stellen. – Im Nocturne (Thème moldave) verwendet Lipatti erstmalig in exponierter Weise die von Messiaen als »Formel der chromatischen Rückwendung«88 bezeich-nete kompositorische Figur, die bereits ein Jahr zuvor in der Fantaisie pour violon, violoncelle et piano (1936) angedeutet wurde. Klassifiziert erst durch Messiaen, ist diese Wendung allerdings auch herleitbar aus entsprechenden Beispielen der rumänischen Volksmusik, etwa in einem 1909 aufgezeichneten Liebeslied aus der Bukowina: Notenbeispiel 49: »Puiculița, bade!«, in: Friedwagner, 1940, S. 525, Takte 1–3.87Szabolcsi, 1972, S. 96. 88Messiaen, Olivier: Technik meiner musikalischen Sprache, Paris 1966, Bd. 1: Text, S. 30 und Bd. 2: Musikalische Beispiele, S. 14, Bsp. 92.