246WerkanalysenSie findet sich als Charakteristik in Werken osteuropäischer Komponisten, z. B. bei Igor Strawinsky, Béla Bartók, George Enescu oder Mihail Jora.89 Daher ist besonders augenfällig, dass Lipatti sie speziell in den beiden Kompositionen verwendet, die er seinem Lehrer Jora widmet, neben dem Nocturne (Thème moldave) die Sonatine pour piano (main gauche seule).90 Zum tragenden Motivbaustein wird diese Figur bei Li-patti außerdem in der Aubade und im ersten der Danses Roumaines. Diese mehrfache Wiederkehr der Formel in seinen Werken verleiht dem Nocturne (Thème moldave), in dem sie erstmalig zum Tragen kommt, Bedeutung in Bezug auf Lipattis Personal-stil. Die folgende analytische Betrachtung fokussiert die drei genannten Ebenen. Der Aufbau des Nocturne (Thème moldave) ist von Beginn an geprägt von Trans-parenz und dem für Colinda-Melodien typischen gleichmäßigen Tempo giusto. Ein eintaktiges Vorspiel aus repetierenden und überlagerten Tonfolgen g-a und f-e be-reitet das a-dorische Thema vor und wird in variierter Form als grundierende Be-gleitung über fast das gesamte Stück beibehalten. So entsteht bereits durch die Fluk-tuation zwischen den Tönen f und fis im dritten Takt eine subtile Reibungsfläche, die eine Flexibilität der Tonreihe mit Offenheit zu e-äolisch bewirkt. Hingegen fin-den sich klare Stützpunkte in der getragenen Schlichtheit und der periodischen Gliederung der Weise, die ebenfalls das gesamte Stück durchzieht und den ruhig kreisenden Fluss und die motivische Geschlossenheit des Nocturne (Thème moldave) prägt: 89Z. B. in Strawinsky: Dumbarton Oaks, 1. »Tempo giusto«; Bartók, Dance Suite Sz. 77, 1. »Moderato«; ders.: Suite Sz. 62, 1. »Allegretto«; ders.: Konzert für Viola, 1. »Allegro moderato«; Enescu: Suite für Orchester op. 20, 5. »Air«; Caprice roumain, 1. »Ben moderato« und 3. »Lento«; Jora: Priveliști moldove-nești, 1. »Pe malul Tazlăului«. Lediglich in Enescus Suite für Orchester ist die strukturelle Bedeutung dieser Wendung der in Lipattis Nocturne vergleichbar.90Vgl. die betreffenden Werkkapitel.