2.2 Weitere Entwicklungsphasen des »style roumain«249Auch das folgende Beispiel aus Neamț zeigt die entsprechende Intervallfolge: Notenbeispiel 53: »Ia Sculați, boieri«, in: Brăiloiu, 1931, S. 6, Nr. 7.Außerdem enthalten einige der genannten Beispiele, wie im Nocturne (Thème molda-ve), den Wechsel von 2/4- und 3/4-Takt, bzw. fünf Zählzeiten. Auffällig ist jedoch, dass Lipattis Thema trotz Taktwechseln, die symmetrisch erfolgen, ein hohes Maß an periodischer Geschlossenheit aufweist, so dass die Vermutung nahe liegt, dass das ursprüngliche Lied metrisch geglättet wurde, um einen ausgewogenen Melo-dieaufbau zu erreichen. Gattungstypisch im Sinne eines französischen Nocturne entfaltet sich über der konfliktrhythmisch bewegten, zurückhaltend begleitenden Klangfläche die mono-thematische, kantable Melodik der Oberstimme, bevor sie sich ab Takt 14 in zwei motivischen Fäden in imitierender Weise auf allen Stimmebenen verwebt. Gemäß der dreiteiligen Liedform kehrt das Thema in der ursprünglichen Länge und Tonart in der Reprise in Takt 33-37 wieder. In den Takten 2, 9, 11, 13, 14, 19 und 20 durch-zieht das abgespaltene Anfangsmotiv die Oberstimmen in jeweils sequenzierter Form, zunächst dreimal in Sekundschritten aufwärts auf a, h und c, anschließend dreimal abwärts auf gis, fis und f. In der rechten Hand entspinnt sich im imitieren-den Spiel mit dem Themenkopf eine konsequente Zweistimmigkeit. Da enge kano-nische Überlappung ein Merkmal des antiphonen Colinda-Gesanges ist,91 kann dies als stilisierende Übernahme der typischen Verarbeitungsform aufgefasst werden. Die erste substanzielle Veränderung erfährt das Motiv in Takt 11 durch die einmali-ge tongeschlechtliche Umdeutung nach C-Dur und die damit deutliche Charakter-veränderung. Zusammen mit der ebenfalls nur in diesem Takt kurzfristig gegebe-nen harmonischen Eindeutigkeit einer funktionalen IV-V-I-Verbindung nach a-Moll entsteht die Besonderheit der Fluktuation zwischen diesen beiden neuen Parallel-tonarten. Durch diese markante Ausdrucksveränderung entsteht ein erster Höhe-punkt, unterstützt durch eine erste dynamische Steigerung von p nach mf.91Vgl. Georgescu, 1998, Sp. 595.