2.2 Weitere Entwicklungsphasen des »style roumain«251Notenbeispiel 55: D. Lipatti: Nocturne (Thème moldave), in: Șoarec, 1981, S. 107, Takt 26. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Editura Muzicală.Dies ist auch der Kulminationspunkt von Tonhöhe und Dynamik, aus dem heraus die versiegende Oberstimme zu der anfänglichen, wenn auch anders rhythmisierten Begleitrepetition zurück leitet. So fällt der Augenblick der größten Zurückhaltung des Stückes auf den Punkt des »Goldenen Schnitts« am Ende von Takt 27 – eine Be-obachtung, die im Kontext weiterer Kompositionen Lipattis, die den »Goldenen Schnitt« berücksichtigen, von Bedeutung ist. Nach der nochmaligen Belebung durch die Reprise klingt das Nocturne (Thème moldave) in scheinbar richtungslos fließenden Motivfäden aus. Dieses Verweben abgespaltener Figuren in nicht linearem Fluss ist ein Verfahren, das sich auch in weiteren Kompositionen Lipattis, vor allem in der Fantaisie pour piano solo und im Nocturne (en fa# mineur) zeigen wird. Kurz vor Schluss erklingt das Hauptmotiv hingegen in Takt 42 nochmals in einer kanoni-schen Engführung und schlägt damit den Bogen zurück zu der Strukturiertheit des Anfangs.Für den harmonischen Verlauf sind stärker als angedeutete funktionsharmoni-sche Spannungsmomente92 oder modale Stufenbeziehungen schlichte Quintverbin-dungen entscheidend, die einer systematischen Abschreitung des Quintenzirkels folgen: Bereits die Melodie besteht aus den Tönen c-g-d-a-e-h-fis. In insgesamt 9 Tak-ten entstehen Ruhepole durch lang gehaltene Pedaltöne, von Șoarec als »Glocken«93 bezeichnet. Diese geben durch leere Quinten, Einzeltöne oder vollständige Akkorde folgende harmonische Orientierung vor: C (T. 6); d, überlagert von F und E (T. 11); d, überlagert von G und a (T. 12); g, überlagert von Es und b (T. 25); a (T. 28); d, über-lagert von a mit den Tonrepetitionen g und f (T. 33); e, überlagert von a (T. 36); d, überlagert von E (T. 37), A, überlagert von fis (T. 39). Das Stück endet in h-Moll, ver-schränkt mit fis-Moll, eine Überlagerung, die bereits in Takt 40 erstmalig entstanden war. Auch wenn gewisse Pole im Stück dominant sind, vor allem d-a-e und zum 92Z. B. wird in den Takten 5 und 34 die Überlagerung e-Moll / G-Dur durch einen D7-Akkord vorberei-tet.93Vgl. Șoarec, 1981, S. 87.