252WerkanalysenSchluss h-fis, ist demnach mit den Bezugspunkten es-b-f-c-g-d-a-e-h-fis ein zusam-menhängender Part des Quintenzirkels vertreten, es fehlen lediglich cis/des und gis/as. Vor diesem Hintergrund wirken auch die häufigen Überlagerungen nicht be-liebig bitonal, sondern oftmals schlüssig in vor- oder nachfolgenden Quintbezügen. Damit baut Lipatti eine harmonische Struktur, die vor allem von offenen tonalen Zusammenklängen geprägt ist, ohne jemals tonale Bindungen zu verlassen. Béla Bartók komponiert 1915, zeitgleich zu seinen Román Népi Táncok (»Rumäni-schen Volkstänzen«), die Klavierstücke Rumänische Colinden, zwei Folgen von je zehn Colinda-Melodien, darunter auch der Titel »Sculați, boieri mari«. Es handelt sich hierbei jedoch um eine andere Melodie, so dass sich kein direkter Vergleich mit dem Nocturne (Thème moldave) anbietet. Doch während bei Bartók, der die Lieder be-wusst nach ihrer kontrastiven Wirkung, vor allem den asymmetrisch wechselnden Metren auswählt und weitgehend im Original belässt, das musikalische Interesse an der Entdeckung und Verbreitung der authentischen Volksmusik im Vordergrund steht, verarbeitet Lipatti das moldauische Thema in stilistischer Unabhängigkeit oder stilisierender Andeutung volksmusikalischer Prinzipien im Sinne seines dama-ligen persönlichen, französisch und pianistisch beeinflussten kompositorischen Ho-rizonts und den Ausläufern der romantisch geprägten rumänischen Schule. Die stilistische Einordnung dieser Komposition Lipattis zeigt verschiedene Fa-cetten gemäß der anfangs angesprochenen Bedeutungsebenen: – Auf die rumänische Herkunft verweist die modale thematische Anlage und der regelmäßige Rhythmus, etwa die in der rumänischen Volksmusik häufi-ge Kombination von Daktylus und Anapäst im zweiten und vierten Takt.94 Nähe zu volksmusikalischen Begleittechniken kann in den bordunartig nach-klingenden Pedaltönen oder den parallel chromatisch geführten leeren Quin-ten, etwa in oben abgebildetem Takt 26, gesehen werden. – Typisch für die französische Nocturne-Tradition sind hingegen die äußeren Entwicklungsverläufe der monothematischen Liedform mit präludierender Begleitung. Sie werden durchbrochen von klangorientierten Passagen im-pressionistischer Färbung, in denen die arpeggierten Akkorde harmonische Festlegung vermeiden und Instabilität wie Flexibilität der Bewegung vermit-teln. Mittler zwischen lyrisch-romantischem und impressionistisch-auflösen-dem Gestus sind die schnellen Sekundwechsel e-f und g-a der begleitenden Unterstimme, die, verstärkt durch subtile Konfliktrhythmik, den Eindruck fluktuierender Liegeklänge erwecken und die kleinschrittige Intervallstruk-tur des Themas in sich aufnehmen. Dies unterscheidet das Nocturne (Thème moldave) von den im Vergleich dazu eher statischen Strukturen des zwei Jah-re später komponierten Nocturne (en fa# mineur). – Lipattis Ausgangspunkt für einen »style roumain«, der gleichzeitig auf dem Boden westlich-romantischer-Tradition steht, ist hier der der Vermittlung 94Vgl. Oana-Pop, 1967, S. 36 und III.1.5 Gattungen der rumänischen Volksmusik.