2.2 Weitere Entwicklungsphasen des »style roumain«253und Verbindung von Volksmelodie und Klaviergattung. Das moldauische Thema dient als Keimzelle sowohl für die zurückhaltende Begleitstruktur, die daraus Triolenrhythmik und fließende Sekundbewegung entnimmt, als auch für die »Formel der chromatischen Rückwendung«, die sich sukzessive aus Alterierungen der thematischen Sekundmotivik herausbildet. Auch in Hinsicht auf die harmonische Entwicklung enthält das Thema, wie oben ge-zeigt, bereits die Basis für die Quintorientierung.– Damit liefert das Thema Elemente, die bei Lipatti als häufige kompositorische Stilmittel auffallen: Die Unterstimme ist gekennzeichnet von melodisch ste-reotyper Motivbildung. Durch das Gegeneinander von fixierter Begleitstruk-tur und gleichzeitiger Rückung des Themenkopfes entsteht eine Andeutung von Bitonalität: Notenbeispiel 56: D. Lipatti: Nocturne (Thème moldave), in: Șoarec, 1981, S. 107, Takt 14. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Editura Muzicală.Neben der tonalen Simultaneität, den Quintverbindungen und der Arbeitsweise der subtil kleinschrittigen Motivvariation ist auch der Hang zu Symmetrie und Ausge-wogenheit augenfällig, ein Kriterium, das Enescu als ein Kennzeichen der Latinität sieht.95 Nicht zuletzt bietet das Colindă-Thema die melodische Grundlage zur Her-ausbildung der »Formel der chromatischen Rückwendung«, dem für Lipattis Hand-schrift typischen Kennzeichen. Die Bedeutung dieser Komposition liegt weniger in der Originalität der Verfah-rensweise der Volksliedbearbeitung als vielmehr in der Entschiedenheit, mit der Li-patti diesen Weg beschreitet. Dies liefert einen Beleg dafür, dass Lipatti diese Stufe als Etappe hin zu abstrakteren Formen der Verarbeitung volksmusikalischer Ele-mente durchlaufen hat.Etwa zeitgleich entstehen die Trois Danses für zwei Klaviere und mutmaßlich eine Motette für Chor und Orchester über einen französischen Text, von der ledig-95Vgl. Gavoty, 1955, S. 40.