262WerkanalysenDas zweite Thema kontrastiert nicht nur durch seinen cantilenen Gegensatz und die zunächst einsetzende harmonische Klärung nach cis-Moll, sondern enthält dazu ein von Lipatti auch aus anderen Kompositionen bekanntes Hauptelement: Moti-visch unvorbereitet wird die »Formel der chromatischen Rückwendung«,105 die Lipatti zuvor 1937 in dem ebenfalls Jora gewidmeten Nocturne (Thème moldave) ver-wendet hat, hier plötzlich zum thematischen Melodieträger. In dieser Deutlichkeit wird Lipatti die Formel wieder 1949 im »Prélude« der Aubade verarbeiten, einem Werk, das Paul Sacher, ebenfalls zum Geburtstag, gewidmet ist.Notenbeispiel 61: D. Lipatti: Sonatine pour piano (main gauche seule), 3. Satz, Takte 41–42.Im weiteren Verlauf dominiert eine reich modulierende, triolisch-arpeggierte Ak-kordfülle an Stelle der kindlichen Schlichtheit des Anfangs, bevor sich das erste Thema in zunächst abrupten Motivfetzen wieder einschiebt und auf diese Weise den spielerischen Umgang mit dem thematischen Material zurückgewinnt.Auch im Finalsatz ist eine »angehängte«, für Lipattis Personalstil inzwischen ty-pische Schlussformel auffälliges Merkmal. Diesmal tritt sie nicht verspielt, sondern, wie am Ende des Mittelsatzes der Fantaisie pour piano solo oder des Finalsatzes des Concerto pour orgue et piano, bestätigend auf, indem sie im ff durch Quintfall zum Grundton 1D abkadenziert.Obwohl Lipatti selbst die rumänische Ausrichtung der Sonatine pour piano (main gauche seule) hervorhebt, ist das Werk ein deutliches Beispiel für die Verschmelzung seines »style roumain« mit Elementen der westlichen Moderne. Das thematische Material zeugt in Rhythmus, modaler wie chromatisierter Melodik und Harmonik und Verzierungsreichtum von Inspirationen aus der rumänischen Volksmusik. Ne-ben angedeuteten heterophonen Zügen ist die motivisch-thematische Verarbeitung jedoch geprägt von den Klangvorstellungen spätromantischer Klaviergattungen ei-nerseits sowie neoklassizistischer Geradlinigkeit und Transparenz andererseits. Der italienische Musikwissenschaftler Marco Vincenzi sieht in der virtuosen Ausrich-tung eine Nähe zu Ravels Tombeau de Couperin und der pianistischen Eleganz mit den Six Études op. 135 für die linke Hand von Saint-Saëns und betont damit die fran-zösischen Einflüsse.106 105Vgl. IV.2.2.1 »Nocturne (Thème moldave)«.106Vgl. Vincenzi, 2001, S. 7.