2.2 Weitere Entwicklungsphasen des »style roumain«263Die Sonatine pour piano (main gauche seule) lässt in Bezug auf Lipattis fortgeschrit-tenen Personalstil vertiefende Schlüsse zu. In dem eigenwilligen, tonal offenen Be-ginn ist eine bezeichnende Parallele zu dem Anfang der ein Jahr zuvor komponier-ten Fantaisie pour piano solo zu erkennen, die zwar in ihrer sphärischen Konzentrati-on auf einen einzelnen Zentralton zunächst vollkommen konträr erscheint; doch in der Ausrichtung auf die Erzeugung einer unspezifischen Klangmotivik als Vorbe-reitung einer eindeutigen thematischen Gestalt zeigt sich dieselbe kompositorische Funktion.Erst zwei Jahre später, im Sommer 1943, wird Lipatti eine nächste Komposition, die Danses Roumaines, fertig stellen, zu denen insofern kompositorische Bezüge be-stehen, als Lipatti darin die in der Sonatine pour piano (main gauche seule) begonnene Konzentration auf eindeutig volksmusikalisch deutbare Elemente, in Tempo, Mehr-stimmigkeit, Ambitus und Artikulation pianistisch ausgerichtet, in konsequenter Weise fortführen wird. Zahlreiche kompositorische Elemente können aufgrund ihrer charaktergebenden Eigenschaft und ihrer steten Wiederkehr in Kompositionen Lipattis als typisch für seinen Personalstil festgestellt werden; bezeichnend sind in dieser Hinsicht vor al-lem die Verwendung der »Formel der chromatischen Rückwendung«, die beharr-lich-zielgerichteten Terzführungen der Begleitstimmen im zweiten Satz ähnlich de-nen im Nocturne (en fa# mineur), der von Modalität und Quartschichtungen gekenn-zeichnete harmonische Aufbau, stereotype Setzung und Beibehaltung von Begleit-formeln sowie der Wechsel von zielgerader klassizistischer Linienführung und klanglichem Innehalten.Gattungsgemäß umrahmen zwei lebhafte Ecksätze einen lyrischen Mittelsatz, die Durchführungsteile der angedeuteten Sonatenhauptsatzform sind kurz gehal-ten, nur angedeutet. Der schlichte, prägnante Aufbau der Hauptthemen der schnel-len, tänzerischen Sätze verstärkt die miniaturhafte Anlage des kurzen, musikalisch komprimierten Werkes. Thematische Transparenz, Konzentration der musikali-schen Ideen und die lapidare Schlussbildung tragen mitunter ironische Züge und weisen damit schon auf die kompositorische Ausrichtung von Lipattis letztem um-fangreichen Werk, der 1949 komponierten Aubade. Wie in den meisten Kompositionen Lipattis sind die Sätze, wenn auch nicht zy-klisch gedacht, so doch motivisch subtil miteinander verwoben. Dabei vermittelt sich keine direkte Themenverwandtschaft, sondern eine ähnliche motivische Mate-rialbasis. Lipattis oben zitierte Bezeichnung »brillierend« dürfte sich auf die hochvirtuose Anlage der Sonatine beziehen, die in der stimmlichen Ausdifferenzierung und Transparenz an den Rand der technischen Möglichkeiten einer Hand geht und pia-nistische Höchstleistungen verlangt. Die kompakt-bündige Sonatine pour piano (main gauche seule) ist eines der weni-gen Werke Lipattis, dessen Rezeption sich über die Jahrzehnte auch jenseits der Li-patti-Kennerschaft etabliert hat. Dazu erinnert sich Lipattis Schüler Béla Siki: