2.2 Weitere Entwicklungsphasen des »style roumain«267Die Parallelen bestehen, wenn auch bei verschiedenem Grundrhythmus, im über-einstimmenden Tonraum mit gleicher Finalis und Confinalis, in analoger Phrasen-bildung und in der Art, wie ein neuer Hauptton nicht über Kadenzen eines Dur-Moll-Systems, also über die Vertikale, erreicht wird, sondern linear, in der Horizon-talen, der modalen Melodiebildung folgend. Identische Tonschritte in der Motivik bestehen in den Takten 4 und 8, während die übrigen Takte Umspielungen der bei Lipatti aus schnörkellosen Tonrepetitionen und Viertelschritten gebauten Linie dar-stellen.Während in Lipattis Nocturne (Thème moldave) der Titel die fremde Urheberschaft des Themas andeutet, legt das Fehlen eines entsprechenden Hinweises in dem vorliegenden Werk Lipattis Autorschaft der Themen nahe. Offen bleibt, ob es sich um bewusste Anspielungen oder um die bloße kompositorische Absicht handelt, ein Thema zu entwerfen, das dem Repertoire rumänischer Volksmusik angehören könnte. Die kompositorische Behandlung geschieht ganz in diesem Sinne: In der ersten Wiederholung dieser Themenmelodien, bezeichnenderweise dem Klavier, dem Solisten, überlassen, finden sich Halbe, Durchgangs- und Wechselnoten, auch Verzierungen, wie zufällig eingestreut. Offensichtlich intendiert ist nicht der Eindruck geplanter Themenvariation, sondern der der spontan »musikantischen« Improvisation volksmusikalischer Tradition. So schließt Lipatti an die Verfahrensweise volksmusikalischer Überlieferung an – vielleicht ist auch dies eine Antwort auf die von Vancea aufgeworfene Frage nach der Urheberschaft.Die Begleitung in der linken Hand harmonisiert die klare äolische Tonalität dis-sonant mit Sekundreibungen, die durch Gleichzeitigkeit von großer Septe und Grundton – das sind die »Șchioapa«-Anfangstöne in der Gleichzeitigkeit –, von übermäßiger Quarte und Quinte, von großer Sexte und kleiner Septe, von übermä-ßiger Sekunde und großer Terz, von Quinte und Sexte sowie von übermäßiger Quarte und reiner Quinte entstehen. Eine Notation der Töne in der Horizontale würde folglich immer wieder neue Varianten einer Grundskala entstehen lassen. Die vor allem artikulatorisch variierte Wiederholung dieser Phrase im ersten Kla-vier erhebt die Fluktuation der Tonstufen dadurch zum Prinzip, dass in den Begleit-figuren durchlaufender Achtelnoten durch immer neue Setzung kleiner und über-mäßiger Sekund- oder auch Terzschritte stets neues Skalenmaterial entworfen wird. In der Zweiteilung des Motivs in eine aufwärts- und eine abwärtsstrebende Takt-hälfte und durch die unablässigen Chromatisierungen, die im schnellen Tempo ih-ren fluktuierenden, oszillierenden Charakter noch verstärken, ähnelt diese Begleit-struktur der zu Beginn der Sonatine pour piano (main gauche seule). Die zweite, ebenfalls achttaktige Phrase des Themas in C-Dur beginnt ab Takt 17. Die Melodie bleibt mit kurzen Auf- und Abwärtsbewegungen, bestehend aus Quartsprung zum Grundton und Sekundschritte, tonal geschlossen und endet in a-Moll. Die rhythmischen Bewegungen sind hier gleichförmig in Viertelschritten mit jeweils einem abschließenden Achtel im Takt angeordnet, verwandt dem »Bul-garischen Rhythmus« im Mikrokosmos von Bartók. Auch diese zweite Themenphrase wird zunächst im zweiten Klavier staccato und rhythmisch homophon exponiert