282WerkanalysenBărgăuanu und Tănăsescu sprechen folglich auch von der Reifung des »style lipat-tien«, der die Konzentration der Mittel in bestproportionierter Form zeige.129 In Bezug auf das explizit »Rumänische« stellt sich die Frage nach der Intention und dem Kontext, in den Lipatti sein Werk gestellt sehen will. Geht es um die Fort-führung der Tradition nationaler Tänze vorheriger, also klassisch-romantischer Ge-nerationen von Komponisten nationaler Schulen wie in den Slawischen Tänzen von Dvořák, den Norwegischen Tänzen von Grieg oder auch den Rumänischen Volkstänzen (1915/17) von Bartók, die als Verarbeitung von Feldforschungsergebnissen einen an-deren Ansatz verfolgen? Oder sollen die Danses Roumaines umgekehrt gerade Di-stanz zu solchen plakativ instrumentierten Werken vergangener Epochen oder Schulen schaffen, in denen sich mitteleuropäische Symphonik mit dem mit Ausnah-me Bartóks nicht wirklich authentischen nationalen Kolorit verbindet? Die pointier-te und doch nüchterne »giocoso«-Verspieltheit der vierhändigen Komposition kann streckenweise durchaus als ironische Abgrenzung zu abgegriffenen Klischees auf-gefasst werden, wohingegen Lipattis zwei Jahre später vorgenommene Umarbei-tung für großes Orchester gerade diese Distanz wieder zurücknimmt durch gezielt platzierte instrumentale Effekte, sei es mittels Blech oder Perkussion, sei es mittels der überdeutlich volksmusikalisch eingesetzten Flöte oder Oboe. Oder ist die Kom-position als Positionierung innerhalb der rumänischen Schule gedacht, anknüpfend an Două Dansuri românești (1926) von Theodor Rogalski, an »La Joc« und »Alai țigă-nesc« aus Privelişti moldoveneşti (»Moldauische Landschaften«) von Jora oder auch an frühere Kompositionen wie Dans Țărănesc von Constantin Dimitrescu und an die Rhapsodien von George Enescu? Andererseits wurden die Danses Roumaines gezielt für eine Tournee nach Westeuropa, wo rumänische Musik weitgehend unbekannt war, komponiert und von Lipatti nur dort aufgeführt und bearbeitet, zu einem Zeit-punkt, als Lipattis öffentliche Aufführungen anderer eigener Werke immer seltener wurden. Die Danses Roumaines lassen sich innerhalb dieser Fragestellungen nicht festle-gen, sondern behalten ihre widersprüchlichen Facetten. Eindeutiger ist die Bewer-tung bezogen auf das gesamte OEuvre Lipattis. Der Vergleich mit anderen, also früheren explizit »rumänischen« Werken, der Sonatine pour violon et piano, der Suite Șătrarii und dem Nocturne (Thème moldave), zeigt hier einen deutlich anderen Zugriff auf die volksmusikalischen Vorlagen: Nicht mehr die gewollt programmmusikalische Wiedererkennung wie in Șătrarii, nicht mehr der romantisch-verträumte Lăutari-Stil der Violinsonatine, nicht mehr die originale Vorlage wie im Nocturne pour piano (Thème moldave) sind angestrebt, sondern die Suche nach griffig-tragenden Themen, die ein Fundament für spieleri-sche Verfremdung und virtuose Brillanz bieten, lässt Lipatti im motivischen Materi-al der Volksmusik fündig und wirksam werden. Die ihm tief vertraute rumänische Musik lässt sich auf der für ihn kompositorisch gültigen Ebene des Neoklassizismus129Vgl. Bărgăuanu / Tănăsescu, 1991, S. 185.