2.3 Weitere Entwicklungsphasen des »style français«283nutzbar machen und entfalten, und durch diesen Zugriff lässt sich die ihm wertvol-le Volksmusik in eine beständige Form überführen. Bărgăuanu und Tănăsescu sprechen von einer Stilisierung der modalen Melodi-en populärer Inspiration im Sinne der französischen Schule,130 worunter sie offen-bar den Neoklassizismus verstehen, und Vancea sieht eine Unterscheidung zu an-deren rumänischen Komponisten wie Constantinescu, Silvestri oder Rogalski, die den volkstümlichen Gehalt modaler Strukturen und populärer Tanzmelodien im Vordergrund beließen, während Lipatti ihn als konstruktives kompositorisches Ele-ment begreife.131 Wieder liegt also ein deutliches Kriterium für einen neoklassizisti-schen Zugriff vor. Andererseits verweist dieser Zugriff auf rumänische Materialien, die die für Li-patti typische Bauweise von Verspieltheit, Grazilität, Finesse und dezenten Überra-schungseffekten ermöglichen, zugleich auf eine Begrenzung von Eigenständigkeit und Originalität, denn er verzichtet hier darauf, die auf der Verfahrensebene neu er-forschten Wege der Symphonie Concertante, des Concerto pour orgue et piano oder der Fantaisie pour piano solo weiter zu verfolgen. Die Danses Roumaines scheinen im Ge-genteil ganz bewusst zu trennen zwischen rumänischen Kennzeichen und westeu-ropäischer, klassisch-akademischer Kompositionsweise: Überdeutlich und plakativ im Themenbereich und im Sinne der Intention verständlich durch die Einfassung für den weniger bewandten westlichen Konzerthörer. Dabei wird das Rumänische, weit mehr als ein »Kolorit«, funktional systematisch und seinen eigenen Gesetzmä-ßigkeiten nach verwendet als kompromissloses Fundament. Intendiert ist die schlüssige Präsentation der Volksmusik und deren Zuschneidung auf das erzielte pianistisch-virtuose Konzertstück und nicht das kompositorische Novum. In den Danses Roumaines als letzte im Sinne des »style roumain« benannte Kom-position zeigt sich eine systematische Form der Addition von Ost und West, von volksmusikalischer Tradition und klassisch-akademischer Schule, jedoch keine Syn-these im Sinne einer aus der Verknüpfung beider Traditionen heraus entstandenen neuen Ausdrucksweise. 2.3 Weitere Entwicklungsphasen des »style français«2.3.1 Nocturne (en fa# mineur) op. 6In den explizit französisch konnotierten Werken Lipattis finden sich ausgesprochen heterogene Einflüsse französischer Strömungen. Wie in den folgenden Kapiteln er-kennbar wird, stehen Traditionen von Nocturne- und Mélodies-Gattung neben neo-klassizistischen und impressionistischen Verfahrensweisen oder verbinden sich zum Teil mit ihnen. 130Vgl. ebd.131Vgl. Vancea, 1978, S. 289. Es handelt sich jedoch weder bei Bărgăuanu / Tănăsescu noch bei Vancea um ausführliche Werkdarstellungen.