284WerkanalysenDas Nocturne (en fa# mineur) gehört zu einem Zyklus von Trois Nocturnes français op. 6, den Lipatti im Laufe des Jahres 1939 konzipiert.132 Șoarec, der Lipatti im Som-mer um eine Komposition für sein Klaviertrio bittet,133 schreibt, dieser habe zu dem Zeitpunkt an den »Trei Nocturne franceze«134 gearbeitet. Erhalten und bekannt ist nur das vorliegende Nocturne (en fa# mineur), das 1961 bei Salabert publiziert wurde. In einem Brief an Boulanger schreibt Lipatti jedoch, er habe vier Nocturnes für Kla-vier geschrieben, eine Information, die aufgrund seiner regelmäßig akribisch-proto-kollarischen Berichterstattung unmissverständlich besagt, dass diese fertiggestellt sind.135 Die Uraufführung aller drei Nocturnes français fand am 16.12.1939 durch Li-patti in Bukarest statt. Gewidmet ist das Werk Clara Haskil, die es über Jahrzehnte im Programm behält und damit zur Rezeption einer Komposition Lipattis bei-trägt.136 Wie das Stück auch den Abschied dieser beiden in Paris eng befreundeten und zusammen arbeitenden Pianisten nach der Rückkehr Lipattis nach Rumänien überbrückt, vermittelt ein Brief, in dem Haskil mit scherzhaft drängendem Unterton um die Übersendung des Opus bittet: »Hab’ ich Ihnen geschrieben, daß ich im Radio am 9. September Ihr Nocturne und ein Stück von Poulenc aufnehmen werde? Wenn Sie es mir bis dahin nicht schicken, werde ich selbst eins komponieren müssen. Sind Sie sich im Klaren darüber, was Sie erwartet?«137Das Nocturne (en fa# mineur) entsteht am Ende von Lipattis Pariser Studienjahren, ei-nige Wochen vor dem kurzen, rumänisch inspirierten Introduction et Allegro pour flûte solo. Es ist in Titel, Gattung und Kompositionsweise zusammen mit den Vokal-werken Quatre Mélodies und Cinq Chansons die deutlichste erhaltene Artikulation von Lipattis »style français«,138 dessen Merkmale im Folgenden herausgearbeitet werden sollen. Außerdem stellt sich die Frage nach Parallelen zu dem gattungsver-wandten Nocturne (Thème moldave).Formal dreiteilig gegliedert spaltet sich die bestimmende Motivik des kontrastie-renden Mittelteils jedoch aus dem Material des Initialmotivs ab. Kennzeichnend für die Satzstruktur des Nocturne (en fa# mineur) ist eine Überlagerung dreier Ebenen von melodietragender Oberstimme, Bassfundament und klanggebender Mittelstim-me, die motivisch unabhängig ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgen: Die ruhige thematische Idee kreist zunächst in Sekundschritten um den Tetrachord fis-h, setzt 132Bărgăuanu und Tănăsescu geben das Entstehungsdatum mit 25.04.1939 an, vgl. Bărgăuanu / Tănă-sescu, 1991, S. 264.133Es handelt sich um die Première Improvisation. 134Șoarec, 1981, S. 55.135Brief vom 17.03.1940 an Nadia Boulanger, Muzica 4/2000, S. 63. Da Boulanger zu diesem Zeitpunkt bereits das Nocturne (Thème moldave) und vermutlich auch das Nocturne (en fa# mineur) kannte, muss es sich um weitere, unbekannte Kompositionen handeln.136Verwiesen sei auf die aktuelle Einspielung des Nocturne (en fa# mineur) von Gerd Meditz, CD S 2037. 137Brief vom 13.07.1939, veröffentlicht in: Steegmann / Rieger, 1996, S. 258.138Unbekannt ist Lipattis Concertino en style français pour piano et orchestre, vgl. Bărgăuanu / Tănăsescu, 1991, S. 265.