286WerkanalysenDie Basslinie beschreibt wiederum in kreisenden, glockenähnlichen Viertel-Bewe-gungen eine fis-Moll-Dreiklangsmelodik in pentatonischen Stufen, bevor sie ab Takt 13 mit diesem Schema bricht und harmonisch stützende, teils leittönige Funk-tionen übernimmt. Kennzeichnend für die drei stimmlichen Ebenen ist die stereotype, minimal vari-ierte Wiederkehr der Motive als ein Prinzip der Statik und Undurchlässigkeit ge-genüber verändernder Fortentwicklung. Ein weiteres Merkmal ist die zeitliche und räumliche Kleinschrittigkeit, die sich in Sekundbewegungen und rhythmischer Re-duzierung ausdrückt. Angesichts der rhythmischen Ostinati der unteren Stimmen beschränkt sich auch die tragende thematische Melodie auf wenige, sich wiederho-lende Bewegungsmuster. Auffallend ist die in Lipattis Kompositionen sonst seltene funktionsharmonische Zielgerichtetheit. Das Stück beginnt in reinem fis-Moll und entwickelt die thematischen Steigerungsmomente dominantisch über Cis-Dur in den Takten 12 und 15 und vorhaltreiche Übergangsmodulationen. Dysfunktionale Reibungen erwachsen aus der Unflexibilität der genannten abgeschlossenen Einzel-figuren, die sich durch unregelmäßige Wechsel der Taktmetren und minimale Va-riationen der zeitlichen Abfolge in geringfügig neuen, teils dissonanten Kombinatio-nen überlagern. Das Prinzip der Wechsel der Taktmetren, das im Nocturne (Thème moldave) der thematischen Strukturierung diente, führt hier zum orientierungser-schwerenden Schwebezustand, der die melodische Zielrichtung verwischt und le-diglich die aktuelle Teilbewegung, den augenblicklichen Status, fokussiert und fast schon minimalistisch als Erprobung von Kombinationsmöglichkeiten erscheint.Ein Aufbrechen dieser schillernden Charakteristik von Monotonie und zaghafter melodischer wie harmonischer Belebung geschieht, unter enharmonischer Umdeu-tung, durch Modulation von der Dominante Cis zu deren Mollparallele b als Tonart des 32taktigen Zwischenteils, in dem die Bassstimme zum Melodieträger wird. Ein sich sequenziert wiederholendes zweitaktiges Motiv, in dem sich die Themenele-mente aufsteigender Intervallsprung, fallender Sekundschritt und sarabandeartige Punktierung wiederfinden, belebt die bis dahin verhaltene Stimmung:Notenbeispiel 76: D. Lipatti: Nocturne (en fa# mineur), Edition Salabert, 1961, Takte 17–20, linke Hand. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Salabert-Durand-Eschig.