2.3 Weitere Entwicklungsphasen des »style français«287Trotz des scharfen Kontrastes durch vorwärts strebende Motivik und die neue sono-re Klangfarbe handelt es sich nicht um ein neues Thema, sondern um die kontrasti-ve Erweiterung der in Varianten in der Oberstimme parallel fortlaufenden Anfangs-motivik. Mit der Vortragsbezeichnung le chant en dehors, mit gedehnter Agogik, Ausweitung der hohen Tonlagen und dynamischer Steigerung nimmt die Intensität bis zum Höhepunkt in Takt 38 zu, danach folgen überleitende Modulationen hin zur wieder verhaltenen Reprise. Die Eindringlichkeit des Bassmotivs verliert damit an Bedeutung, und die fast die Hälfte des Stückes einnehmende Reprise zementiert den schwerfällig-monotonen Gestus der umeinander kreisenden Motive. Die einzi-ge dialogische Verschmelzung der stimmlichen Ebenen findet in Takt 57f, der Stelle des »Goldenen Schnitts«, statt, in dem die Mittelstimme aus der akkordischen Be-gleitung ausbricht und eine lyrische Hauptmotivzelle imitiert: Notenbeispiel 77: D. Lipatti: Nocturne (en fa# mineur), Edition Salabert, 1961, Takte 56–59. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Salabert-Durand-Eschig.Der überwiegende Teil ist geprägt von subtilen Veränderungen in Harmonisierung und Stimmführung; eine identische Wiederholung der Anfangsmotivik liegt nur in den Takten 59/2–61/2 und 64/2–65/2 vor. Ein wesentliches Variationsmittel ist die Verschiebung des Metrums, wodurch dem Quartsprung wechselnd auch volltaktige Wirkung zukommt. Der Calando und poco ritardando ausklingende Teil mündet ab Takt 79 a Tempo in die erneute Wiederaufnahme des Kopfmotivs, die jedoch nur eine Schlussphase immer stärkerer Stagnation einleitet. Diese manifestiert sich in ei-ner motivischen Verfestigung durch diatonische, in Diskant- und Bassstimme ge-genläufig geführte Terzbewegungen, die den Ambitus extrem verengt. Durch die beharrliche Fixierung auf stereotyp wiederholte, sich gegenseitig metrisch zuwider-laufende Motivreduzierungen und durch starre Ostinati in der Mittelstimme wird der stimmliche und damit auch der harmonische Kontakt unterlaufen. Dieser An-satz zur Monotonie der Bewegungen vermittelt auch Stillstand und Leblosigkeit auf der Ausdrucksebene, verstärkt durch das insistierende Lamentomotiv der fallenden Sekunde.