288WerkanalysenNotenbeispiel 78: D. Lipatti: Nocturne (en fa# mineur), Edition Salabert, 1961, Takte 79-82. Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Salabert-Durand-Eschig.Das Ende des Nocturne (en fa# mineur) verklingt im Schwebezustand, hervorgerufen durch rhythmische Schwerpunktlosigkeit und Zersetzung der Motivteile durch Pausen. Zielakkord der versiegenden melodischen Linie ist die leere Quinte der Do-minantstufe auf cis.In der Beantwortung der Frage nach dem französischen Gehalt des Nocturne (en fa# mineur) zeigen sich folgende Aspekte: Aufgrund der formalen und klanglichen Anlage und des gattungstypischen Ausdrucksgehalts kann das Werk in die Tradition des französischen Nocturne ein-geordnet werden. Trotz der deutlichen Dreigliederung ist das gesamte Nocturne (en fa# mineur) gekennzeichnet von unablässig fließender Variation der thematischen Grundidee und damit motivischer Durchlässigkeit der Formteile. Die zwar kanta-blen Bausteine finden niemals zu einer liedhaften Einheit. In dieser Durchbrochen-heit zeigen sich vielmehr Tendenzen zu einer Infragestellung dieser romantischen Klaviergattung. Mit den Auflösungsbestrebungen der romanzenhaften Linie zu-gunsten einer vermehrt statischen Klangorientierung und der beständigen Rück-kehr zum selben motivischen Kern142 rückt das Nocturne vielmehr in die Nähe des Impressionismus. Auch übernimmt die aus dem statischen thematischen Kreisen, den pentatonischen Anklängen der Bassführung und den damit verbundenen Inter-vallschichtungen von Sekunden, Quarten und Nonen resultierende offene, bitonal deutbare Harmonik phasenweise koloristische Funktion. Doch die Konturen inner-halb der überlagerten Figuren bleiben bestehen. Ihre atmosphärische und farbge-bende Gestaltungskraft liegt in der fließenden Bewegung, mit der sich die einzeln abgegrenzten Motivzellen unaufhaltsam verbinden. Es handelt sich folglich nicht um die impressionistische Klanglichkeit, die Lipatti etwa im zweiten Satz der Sym-phonie Concertante oder den letzten Takten der Fantaisie pour piano solo verwendet und die auf eine auf fluktuierenden Motivzellen beruhende Klangflächenarbeit 142Vgl. III.2.5.1.2.2.1 »Französischer Impressionismus«.