290Werkanalysenfahren, das auch Vincenzi als typisch für Lipatti bewertet.150 Variationsvorgänge vollziehen sich subtil und dynamisch wie charakterlich verhalten und werden zu ei-nem Spiegelbild, das dasselbe Motiv aus verschiedenen Perspektiven und in unter-schiedlicher Deutlichkeit angesichts der wechselnden Überlagerung der stimmli-chen Ebenen beleuchtet. Die Dichte dieser zusammengefügten Klangmodelle zielt auf einen undurchsichtig schillernden Gesamtklang, der im Gegensatz zu der klas-sizistischen Klarheit und Transparenz steht, die die Mehrheit von Lipattis Komposi-tionen prägt und eine andere, neoklassizistische, Komponente seines »style français« ausdrückt. Identisch ist jedoch der Angelpunkt der zyklischen Durchdrin-gung und kleinzelligen Verwebung des Materials, wodurch aus der motivischen eine formale Geschlossenheit entsteht. Auf diese Weise offenbart das Nocturne (en fa# mineur) die persönliche Aneignung und Verarbeitung stilistischer Traditionen, die bereits Vokabeln der Musiksprache enthält, mit der Lipatti seine Synthese ver-schiedener kompositorischer Horizonte etwa in der Fantasie pour piano solo oder der Aubade ausdrücken wird. 2.3.2 Concerto pour orgue et pianoDas Concerto pour orgue et piano entsteht 1939 und ist Lipattis Lehrerin Nadia Bou-langer gewidmet. Das nicht edierte Werk ist in mehreren Fassungen dokumentiert, die der folgenden Darstellung zu Grunde liegen: Die Endversion eines Kopisten be-findet sich in der Bibliothek des Rumänischen Komponistenverbandes (Nr. 2692), und neben einer handschriftlichen Einzelstimmausgabe (Ms. Mz. Nr. 1233) liegen in der Bibliothek der Rumänischen Akademie eine Manuskript-Version (Ms. Mz. Nr. 1235) mit teilweise radierten Bleistift-Eintragungen, die den Entstehungsprozess verfolgen lassen, und eine Reinschrift mit Bleistift (Ms. Mz. Nr. 1232) vor, letztere mit zusätzlichen Notizen Lipattis vor allem im ersten Satz für eine Fassung für Kla-vier und Orchester. Außerdem existiert das Manuskript einer veränderten Version des zweiten Satzes (Ms. Mz. Nr. 1247). Das frühe Manuskript (Ms. Mz. Nr. 1235) legt einen sukzessiven Entstehungsprozess des viersätzigen Stückes nahe, da es als Zeit- und Ortsangaben über dem ersten Satz »Fundățeanca, le 7 Août 1939« und un-ter dem dritten »Fundățeanca le 12 Août« vermerkt, während die Endversion das Datum des 18. August 1939 enthält – insgesamt ist das also ein Entstehungszeit-raum von lediglich elf Tagen. Ob das Stück gedanklich möglicherweise bereits in Paris begonnen wurde, wo sich Lipatti bis Anfang Juli aufhielt, ist nicht bekannt. Die offizielle Uraufführung des Werkes hat 1970 stattgefunden.151 Aus einem Brief Lipattis an Boulanger geht hervor, dass er eine Aufführung in Bukarest ange-150Vgl. Vincenzi, 1988, S. 47–49.151Vgl. Bărgăuanu / Tănăsescu, 1991, S. 264; die Interpreten der Uraufführung am 08.12.1970 in Buka-rest, Horst Gehann (Orgel) und Lipattis Studienkollege Corneliu Gheorghiu (Klavier), haben das Werk auf Konzertreisen wiederholt auch im Ausland aufgeführt; eine weitere Aufführung fand im Dezember 1991 in Sinaia im Rahmen des Lipatti-Symposions durch Nicolae Licareț (Orgel) und Va-lentin Gheorghiu (Klavier) statt.