2.3 Weitere Entwicklungsphasen des »style français«293Folglich stellt sich in der folgenden Werkbetrachtung auch die Frage, in welcher Weise sich die Simplicité als neoklassizistisches Prinzip in Lipattis Komposition wiederfindet. Besonderen Raum soll die Verfahrensanalyse des ersten Satzes ein-nehmen, da dieser in seinen Grundelementen exemplarisch auch für andere Stücke Lipattis steht.Das Concerto pour orgue et piano besteht aus vier Sätzen von jeweils ausgeprägtem, eigenem Charakter. Am Anfang steht ein lebhaftes »Allegretto« von pulsierender und tonal kühner Melodik, es folgt ein zurückhaltend expressives »Andante cantabile« und anschließend kontrastierend ein »Allegro grazioso« von musette-hafter Leichtigkeit. Den Schlusssatz »Risoluto« kennzeichnet klangliche Wucht bei gleichzeitiger formaler Strenge. Im Folgenden werden die Grundideen der vier Sätze sukzessive vorgestellt, be-sonders ausführlich die des ersten Satzes, da sich in ihm kompositorische Potenziale zeigen, die auch für die folgenden Sätze relevant sind. Allegretto Der Verlauf des ersten Satzes ist linear. Zwei gegensätzliche Themen, in der Ausschöpfung spezifischer Klangfärbung das eine stärker dem Klavier, das an-dere der Orgel zugeordnet, bestimmen nacheinander die Entwicklung, flankiert von zwei weiteren Kontrastmotiven, die der thematischen Verarbeitung zusätzliche Im-pulse verleihen. Beide Themen erfahren klassischerweise eine Reprise und treten in Dialog zueinander, ohne dass es jedoch zu einer tatsächlichen Verschmelzung kommt. Erkennbar ist die Anlehnung an eine ABA’-Form, in der ein lebhaft-verspieltes, von schnellen Läufen getragenes, und ein statisch-schwerfälliges, von pausendurch-setzten Akkordschichtungen gekennzeichnetes Thema konfrontiert werden. Pulsie-rende barocke Motorik steht rhythmisch bremsender Asymmetrie entgegen, jeweils geprägt von dissonant grundierender Harmonik.Motivisch beginnt der erste Satz im Klavierpart mit einem auftaktigen Quartsprung zum vorläufigen Grundton e’’ als Impuls für eine Sechzehntelkette, die sich zumeist in Sekundschritten in die Höhe schraubt und nach dem Zielton der Oktave in verspielten Windungen wieder zum Anfangston führt, zunächst in dorischer, dann weiter abwärts zum e’ in mixolydischer Skala. Modulierende Akkordbrechungen münden in Takt 8 in einen E-Dur-Aufstieg, kontrastiert mit der Mollterz auf der zweiten Zählzeit. Akzentuierte und mit Vorschlägen versehene Achtelsprünge von großem Ambitus markieren einen thematischen Schlusspunkt in Takt 9. Die begleitenden staccato-Achtelnoten der linken Hand, die sich mit chro-matisch abwärtsführenden Sext-Intervallen harmonisch unabhängig bewegen, unterstreichen den lebhaft-leichtfüßigen Charakter dieses ersten Themas. Dessen tonale Besonderheit liegt in der aufstrebenden Skala von e’-e’’, die weder dur-moll-tonal noch modal ist, sondern die Empfindung der tritonusverwandten Tonleitern