300WerkanalysenDurch die legato-Artikulation werden dreiertaktige Schwerpunkte gesetzt. Damit wird nach wenigen Takten der Impuls zur Erweiterung des Tonraums gegeben:Ab Takt 79 kontrastiert die Klavierstimme mit Reminiszenzen des ersten Themas in Form motorisch-bewegter diatonischer wie chromatischer Läufe, wie eine verspielte Überleitung erscheinend zu zwei weiteren Varianten der zweiten Themengruppe, die, dialogisch zwischen beiden Instrumenten, erstmals ohne Pausen das Wiegen des 5/8-Taktes ausschöpfen. Spätestens hier hat sich das thematische Material »espressivo e legato« etabliert und wird in präludierenden und modulierenden Fortspinnungen durchgeführt bis zu einer letzten neuen Charaktervariante, im Manuskript Ms. Mz. Nr. 1232 mit der Vorgabe »sauvage« versehen, diesmal initiiert vom Klavier.Notenbeispiel 84: Concerto pour orgue et piano, Biblioteca Uniunii Compozitorilor și Muzicologilor din România (Nr. 2692), 1. Satz, Takte 106–107.Der geradlinige Spannungsaufbau, der sich in der Abfolge dieser Themenvarianten und Kontrastmotive vollzieht, wird durch konsequente dynamische Steigerung ver-stärkt. Bis zum Schluss bleibt die dialogische Struktur mit schwerpunktmäßiger Bei-behaltung der exponierten Klangcharaktere bestehen. Der Satz weist neoklassizistische Konstruktionsweisen auf. Barocke Verfahrensprinzipien finden sich im konzertierenden Stil der gleichgewichtig »wettstreitenden« Stimmen und im motorisch-pulsierenden, von Stützakkorden begleiteten Melodiefluss der Fortspinnungsthematik.170 Klassizistische Strenge und schlichte, doch verspielte Motivik werden von Brüchen durchsetzt, etwa dem rhythmisch-asymmetrischen Gegenthema und der dissonanten, von starr fixierten Intervallkonstellationen und Quartschichtung geprägten Harmonik, die der motivischen Fortentwicklung Sperrigkeit verleiht. Anstelle funktionsharmonischer Geradlinigkeit geschieht deren Brechung durch phasenweise Bitonalität und Polymodalität. 170Martin Schimek interpretiert hier Andeutungen auf die barocken Figuren »Groppo« und »Tirata« (vgl. Schimek, Martin: Aspecte neobaroce în creația lui Dinu Lipatti, in: Muzica. Revistă editată de Uniunea Compozitorilor și Muzicologilor din România, Serie nouă, Bukarest Nr. 2 /1999, S. 21–31).