2.3 Weitere Entwicklungsphasen des »style français«309Es folgt eine Reprise des ersten Themas in D-Dur, jedoch formstrenger als vierstim-mige Fuge und konsequent in Dux und Comes. Vincenzi sieht in dieser Überlage-rung von Sonatensatzform, Fuge und Variation eine Parallele zu Lipattis Aubade und dem Dritten der Danses Roumaines, da diese eine ähnliche Konzentration auf den Finalsatz aufweisen.177 Weitere 247 Takte lang werden die beiden Hauptthe-men verarbeitet, in verspielten Trillersequenzen, in modal mehrdeutigen Skalenfol-gen, geradezu mathematisch auf das längenmäßige Gleichgewicht der einzelnen Themenbausteine bedacht und immer wieder ausgewogen dialogisch konzipiert. Gegenüber den filigran gearbeiteten Mittelsätzen stellen die vollgriffigen und har-monisch eindeutigeren Durakkorde, Arpeggien und Unisono- bzw. Parallelläufe wiederum einen Bruch der Hörerwartung dar, zumal dieser Satz an Taktlänge die Summe der drei vorangegangenen überragt. Trotz chromatischer Schärfe und Rei-bungen durch parallel geführte Intervallkonstanten ist dieser Satz durch die Ein-deutigkeit der thematischen Zentren und ihrer stringenten Verarbeitung vorherseh-bar in der Entwicklung, da er kaum von der exponierten Motivik und Rhythmik ab-weicht. Schnörkellos und nüchtern verbindet der Satz Exaktheit und Simplizität mit finalem Pathos. In der handwerklichen Konstruktion liegen diese beiden Anliegen bisweilen unvermittelt nebeneinander, indem die korrekte Sachlichkeit des Schlussaufbaus eine unkontrolliert-affektive Wirkung kaum zulässt. Diese innere Distanz korrespondiert durchaus mit der Handlung im Gedicht von Charles Cros, die gerade dadurch skurril wirkt, dass ein erdachter Vorgang von subtiler Komik vom Verfasser scheinbar anteilslos objektiv-neutral dargestellt wird. Es fallen jedoch nicht nur die Nähe zum Attribut »simple« auf, sondern ebenso Anspielungen an die Kategorien »fureur« und »graves« in den musikalischen Charakterwechseln. Prä-gend sind thematische Einfälle, die in ähnlicher Weise häufig bei Lipatti wiederkeh-ren: verspielte Motivik mit modaler Färbung, rhythmische Akzente und »Stolper«-Effekte, polyphon imitierende Verarbeitung und Triller, die nicht als Ornament, sondern als gestaltender Baustein dienen, indem sie als regelmäßige Hervorhebung einer bestimmten Zählzeit der Motivik Halt geben. Auffällig sind in dieser Hinsicht die sequenzierte Triller-Phrase in Takt 24ff bzw. 68ff und in der Reprise Takt 215ff bzw. 236ff, in der die Triller auf ähnliche Weise in der jeweils zweiten Takthälfte platziert sind wie im Finalsatz des Concertino en style classique. Waren die klassi-schen Anleihen, etwa periodischer Themenaufbau, ungebrochener Melodiefluss, Funktionsharmonik im Concertino en style classique noch direkter und unveränderter, so tragen sie nun unverwechselbarer Lipattis Handschrift in bloßen Andeutungen. Dabei lässt sich das vorangestellte Zitat von Cros auch als kokette Beschreibung die-ser Aneignung verstehen: »histoire« nicht nur verstanden als der Verlauf einer Ge-schichte im Sinne der Erzählung, sondern als Hinweis auf das Komponieren mit his-torischen Vorlagen, die so »simple« komponiert, also zusammengefügt werden, dass es beim ernsten Publikum für Aufruhr sorgen möge. Damit würde auf frap-pierte Stimmen der Kritik gegenüber Strawinskys vermeintlich historisierend-einfa-177Vincenzi, 2001, S. 6.