312WerkanalysenDamit zeigt sich wiederum eine Parallele zu dem diatonisch-chromatischen System der Tonika-, Subdominant- und Dominantachse von Bartók. Ein cha-rakteristischer Bruch mit der kraftvollen und stringent aufgebauten Schluss-coda ist auch der wie ein Anhängsel wirkende Terzfall zum Grundton des Schlussakkords, der nunmehr, die vergangenen harmonischen Mehrdeutig-keiten negierend, den Eindruck einer höchst simplen reinen C-Dur-Tonart er-weckt und dadurch ironisierend wirkt. Das Formbewusstsein wird zum Kennzeichen für Lipattis Personalstil. Es ist im Concerto pour orgue et piano ähnlich ausgeprägt wie im Concertino en style classique (1936), dabei jedoch kompositorisch eigenständiger inspiriert. Weniger expressiv als die Sympho-nie Concertante, ist das Concerto pour orgue et piano doch viel geschlossener, stringenter in den Entwicklungsverläufen und strenger in den Proportionen gearbeitet. Es zielt dabei jedoch nicht auf Stilhomogenität des gesamten Stückes wie etwa die Danses Roumaines, die Sonatine pour piano (main gauche seule), die Fantaisie pour piano solo oder die Nocturnes, Werke, die, mit Ausnah-me der Fantasie pour piano solo, zugleich entschieden einer der beiden Rich-tungen, »style roumain« bzw. »style français«, angehören. Der architektoni-schen Ausgewogenheit entspricht auf der Mikroebene ein komplexer Um-gang mit dem motivisch-thematischen Material, das gemäß den barocken und klassischen Durchführungsmöglichkeiten konsequent durchdrungen wird. Das Handwerklich-Korrekte dieser Arbeitsweise, auch wenn sie im neoklassizistischen Sinne Brechungen einkalkuliert und damit interessante Reibungspotenziale und kompositorische Originalität bewirkt, führt dazu, dass dem Ziel von Gleichgewicht der Form, der Analogien und Kontraste, der Dialoge und Themendualismen dieses bewusste Bemühen um Klarheit und persönliche Aneignung neoklassizistischer Verfahren anzuhören ist. Da-durch überlagert die sachlich-glatte Konstruktion bisweilen die Intensität der musikalischen Ideen. So zeigt sich das Concerto pour orgue et piano als bedeut-sam für die kompositorische Entwicklung in Lipattis persönlichem Umgang mit dem Neoklassizismus und der Suche nach der musikalischen Einheit so verschiedenartigen Materials. Die Widmung an Nadia Boulanger vermittelt, dass dieser Entwicklungsschritt auch an ihre Lehre gebunden ist.2.3.3 Chansons und MélodiesIn Lipattis wenig umfangreichem Liedschaffen sind französische Einflüsse beson-ders offensichtlich. Seine Gedichtvertonungen nach Paul Verlaine, Arthur Rimbaud, Paul Éluard und Paul Valéry stehen in der französischen Mélodies-Tradition. In den 1940er Jahren entstehen zwei Zyklen, Cinq Chansons op. 9 (1941) und Quatre Mélodies (1945) sowie weitere Mélodies-Skizzen. Während Bărgăuanu und Tănăsescu in Be-zug auf den Entstehungszeitraum der Cinq Chansons »Fundățeanca, 14 juillet 1941; Genève, 20 mars 1945«183 vermerken, beharrt Titus Moisescu im Nachwort zu den 183Bărgăuanu / Tănăsescu, 1991, S. 266.