2.3 Weitere Entwicklungsphasen des »style français«315Chromatische Parallelbewegungen und Rückungen bleiben häufiges Kennzeichen nicht nur dieser Lieder. Auch weitere Charakteristika zeigen die Verwandtschaft mit anderen Werken Lipattis: Organisch fließende Konfliktrhythmik kennzeichnet nicht nur die meisten Lieder Lipattis, sondern auch seine beiden Nocturnes, Noctur-ne (Thème moldave) und Nocturne (en fa# mineur). Das getragene Aktionstempo in der Singstimme korrespondiert mit einer langsamen Erweiterung des Ambitus, der sich zunächst in Halbtonschritten im Quartraum abwärts bewegt, bevor er sich nach oben hin öffnet, ebenso wie der Klavierpart sich erst zögerlich zu vollen Akkorden verdichtet, erinnernd an andere Verfahren eines langsam auffächernden Tonraums in der Fantaisie pour piano solo, der Première Improvisation oder im Nocturne (en fa# mi-neur). Eine von der Wirkung her versteckte, aber klar ausgearbeitete und wiederhol-te »Formel der chromatischen Rückwendung« findet sich in der Klavierstimme in den Takten 23–27, unter der Textzeile »par votre âme pure et toute bonne«. Das in Lipattis Liedzyklus folgende »Green« betont den strophischen Text durch eine fast identische gestische Gestaltung der Strophenanfänge, verstärkt oder vor-weggenommen vom Klavier. Auch hier finden sich chromatisch geführte Terzparal-lelen ähnlich wie im Nocturne (en fa# mineur). Der Höreindruck ist jedoch kaum to-nal, funktionale harmonische Verbindungen beschränken sich auf die Singstimme, während der Klavierpart mit der erwarteten harmonischen Konstellation bricht. Ein 1949 geschriebener Brief Lipattis an seinen Arzt Henri Dubois-Ferrière, betreffend eine Blutabnahme, spielt scherzhaft auf das Gedicht »Green« an und zeigt noch nachträglich durch das Wortspiel »pour – par« auf amüsante Weise Lipattis Ver-bundenheit mit dem Text: »Voici le sang. J’aurais préferé vous dire, comme Verlai-ne: Voici des fruits, des fleurs, des feuilles et des branches. Et puis voici mon coeur qui ne bat que par vous«.189 Es folgt Lipattis Angabe seines Pulsschlages.»Il pleure dans mon coeur«190 weist ein sehr lautmalerisches Wort-Ton-Verhält-nis auf, in enger Anlehnung an den Text die Tränen durch Tonrepetitionen und osti-nate, teils chromatisch sich windende Zweiton-Konstellationen und Lamento-Moti-vik abbildend. »Morendo«-versiegend am Ende des Liedes, erinnert die harmonisch nicht aufgelöste Schlussbildung, das Stehenbleiben auf dem Ton cis’, an die des Nocturne (en fa# mineur). Vincenzi sieht eine kompositorische Nähe Lipattis zu De-bussys Vertonungen von »Il pleure dans mon coeur« und »Green«.191 Das folgende »Le piano que baise une main frêle«192 fällt durch den stärker dia-logischen Aufbau von Klavier und Singstimme auf, in der Eigenständigkeit des Kla-vierparts anklingend an mögliche Vorbilder des Klavierliedes, etwa bei Hugo Wolf,189Brief vom 27.04.1949 an Henri Dubois-Ferrière, Kopie des Originalsbriefs im Programmbuch zu »Soirée de Gala par la Fondation Dr. Henri Dubois-Ferrière – Dinu Lipatti, Victoria Hall Genève, Lundi 3 mai 1993«, S. 57; »Hier ist das Blut. Ich hätte Ihnen lieber gesagt, wie Verlaine: Hier sind Früchte, Blumen, Blätter und Zweige. Und dann hier noch mein Herz, das nur schlägt durch Sie.«190»Es weint in meinem Herzen«.191Vgl. Vincenzi, 2001, S. 7.192»Das Klavier, geküsst von einer schwachen Hand«.