2.3 Weitere Entwicklungsphasen des »style français«317Notenbeispiel 93: D. Lipatti: Aubade, 4. Satz, Takte 363-366.Formal bleibt Lipattis Ausdeutung der »Sérénade« nah an der Textvorlage, die Hö-hepunkte »Mon Ange! – ma Gouge!«197 dramatisch, »la voix d’un mort«198 zum Teil durch gesprochenes Flüstern nachzeichnend. Nicht nur in dieser Hinsicht set-zen sich die Vertonungen des Verlaine-Zyklus’ deutlich von den Quatre Mélodies ab. 2.3.3.2 MélodiesLipatti komponiert die Quatre Mélodies im Sommer 1945: »Sensation« (Arthur Rim-baud) – »L’Amoureuse« (Paul Éluard) – »Capitale de la douleur« (Paul Éluard) – »Les Pas« (Paul Valéry). Aus Briefen an Boulanger geht hervor, dass sie sich um eine Aufführung bemüht und dass Hughes Cuénod und Madeleine Lipatti begin-nen, die Quatre Mélodies einzustudieren.199 Am 31.01.1950 bedankt sich Lipatti bei Boulanger für eine Aufführung der Quatre Mélodies durch sie und Cuénod und er-wähnt dabei ein bewegendes Schreiben der Witwe Paul Valérys anlässlich der auf-geführten Vertonung von dessen Gedicht »Les Pas«.200Im Vergleich zu den Cinq Chansons fallen die Zurücknahme des Klavierparts, ein geringerer Liedumfang, eine größere Homogenität im Aufbau und die noch stärke-re, syllabische Orientierung an der natürlichen Sprachmelodie auf. Hervorhebun-gen durch die Wiederholung einzelner Textpassagen kommen nicht mehr vor, der Umgang mit den Textvorlagen ist weniger frei. Die Bedeutung der Quatre Mélodies für Lipattis Kompositionsstil zeigt sich in ihrer »simplicité et […] concision«201 vor allem der pianistischen Begleitstruktur. Auf den Seiten des Manuskripts findet sich etwa eine »Les Pas« zugehörige und »Schema« überschriebene Aneinanderreihung von 36 durchnummerierten Akkorden, die bis auf wenige Ausnahmen das harmo-nische Gerüst des Stückes abbilden: Im Bass oktavverdoppelte Kadenzfolgen über-lagern sich auf bitonale Weise mit chromatisch abwärts sequenzierten Durakkor-den. Die Folge der ersten 13 Takte wiederholt sich im Bass identisch, in der rechten Hand jedoch im Tongeschlecht verändert: Es erklingen nun chromatisch abwärts se-quenzierte Mollakkorde überwiegend derselben Grundtöne, bevor sich mittels alte-rierender Akkorde eine harmonische Verdichtung anschließt. Bis zu Akkord Nr. 30 197»Mein Engel! – mein Meißel!«198»Die Stimme eines Toten«.199Vgl. Briefe vom 08.09.1946 und 28.09.1946 an Nadia Boulanger, Muzica 4/ 2000, S. 69.200Vgl. Brief vom 31.01.1950 an Nadia Boulanger, Muzica 4/ 2000, S. 82.201Bărgăuanu / Tănăsescu, 1991, S. 208; »Einfachheit und […] Prägnanz«.