320WerkanalysenDie hier bewiesene systematisch-strenge, doch nicht sklavisch gebundene Organi-siertheit des Satzes, in den Werken Lipattis durchweg erkennbar, findet in den Mélodies als Gegenstück das ebenfalls für Lipattis Kompositionen charakteristische Kennzeichen der motivischen Keimzellenentwicklung, die ebenfalls immer wieder zu verwandten Materialien zurückkehrt. Über einer flächigen Klavierbegleitung entfaltet sich die Melodie der Singstimme, die kreisend in sich geschlossen ist. Sie erreicht stellenweise improvisatorisch-rezitativische Wirkung, wenn die zurückge-nommene Klavierbegleitung sich auf kadenzierende Stützakkorde oder stereotyp durchlaufende Akkordbrechungen beschränkt. Der Liedtext folgt ohne Eingriffe in den Zeilenverlauf dem Fluss des zu Grunde liegenden Gedichtes und vermeidet große Tonsprünge. Die rumänische Musikwissenschaftlerin Bianca Țiplea betont die rhetorische Funktion bestimmter zu Grunde liegender rhythmisch ostinat durchlau-fender Formeln: Synkopen in »Sensation«, Triolen in »L’Amoureuse«, trochäische Rhythmen in »Capitale de la douleur« und eine Gruppe von vier Sechzehntelnoten in »Les Pas«, die jeweils bestimmte charakterisierende Festlegungen vornähmen und die Strenge der Konstruktion erkennen ließen.202 Diese klare und strenge Glie-derung unterscheidet sich wiederum von der dramatisch-freieren Durchkompositi-on der Cinq Chansons. Das in den Mélodies auffällige Verfahren einer redundand fi-xierten, doch variabel ausgestalteten Grundierung liegt auch in manchen Instru-mentalkompositionen Lipattis vor, etwa dem Concerto pour orgue et piano oder Noc-turne (en fa# mineur). Die auf diese Weise entstehenden fließenden Bewegungsabläu-fe, die ihrerseits der Singstimme Raum zur Entfaltung geben, zeigen durch ihre un-scharfe Konturenbildung Nähe zu impressionistischen Verfahrensweisen. Impres-sionistische Einflüsse sieht Țiplea auch auf harmonischer Ebene, in übermäßigen und verminderten Akkordbildungen in »Sensation«, in den fortschreitenden Terz-parallelen in »l’Amoureuse«, die Bitonalität bewirken, in der plagalen Harmonik in »Capitale de la douleur«, die sie als verwandt zu Debussys »Cathédrale engloutie« einordnet und in der nuancierten Farbgebung durch enharmonische Wechsel und Chromatik in »Les Pas«.203 In ihrer Ausdrucksstärke sieht sie Ähnlichkeiten der Quatre Mélodies zu Mihail Joras letzten Liedern op. 53 und 54 (1957/58) nach Texten Mariana Dumitrescus oder den Șapte cîntece pe versuri de Clément Marot op. 15 (1908) von George Enescu.204 2.3.3.3 LiedfragmenteDie in der Bibliothek der »Uniunea Compozitorilor și Muzicologilor din România« archivierten, bisher jedoch weder ausgewerteten noch veröffentlichten Skizzen Nr. 3379, 3384 und 3385 stellen Fragmente dreier Lieder dar, zwei davon übertitelt 202Vgl. Țiplea, Bianca : Formele intercategoriale ale valorilor estetice promovate de către Dinu Lipatti în creația lirică (‘Patru melodii pentru voce și pian sau Dinu Lipatti în ipostază impresionistă‹), in: Dinu Lipatti. Contemporanul nostru, Caietul Simpozionului Internațional »Dinu Lipatti«, Bukarest 1996, S. 59.203Vgl. a.a.O., S. 61.204Vgl. a.a.O., S. 63.