322WerkanalysenNotenbeispiel 96: D. Lipatti: Mélodie (Fragment), Biblioteca Uniunii Compozitorilor și Muzicologilor din România (Nr. 3379), Takte 1–10.Die beiden anderen Lieder, »Neige« und »Décidé«, würden in etwa dem Umfang des ersten Liedes entsprechen, wenn sie vollendet wären. Das Fragment Nr. 3384, »Neige«, umfasst 30 Takte, fehlend sind vermutlich nur die Schlusstakte des Kla-viers, der Text dürfte vollständig sein. In der poetischen Beschreibung einer Winter-landschaft drücken sich Innehalten, Einsamkeit und Schwermut eines Betrachters aus. Musikalisch spiegelt sich die Stagnation in Tonrepetitionen und einem extrem reduzierten Stimmumfang, unter einer Oktave bleibend, meist nicht über die Quart hinausgehend. Doch steht eine fast konstant durchlaufende, ruhig-arpeggierende 6/8-Bewegung dem Stillstand entgegen. Besonders eindrucksvoll ist eine modulie-rende Linie von Achtel-Oktavsprüngen, die sich zu einer Akkordpassage von Rückungen mit Sekund- und Quartvorhalten fügt. An Richard Wagners »Tristanak-kord« erinnernd, scheint die bei »pâleur«209 erklingende Linienführung durch ex-tremen harmonischen Farbwechsel den Inhalt des Wortes zu konterkarieren. Größte Zurückhaltung ist der wie so oft in Lipattis Kompositionen in chromatischer Klein-schrittigkeit verlaufenden Melodiestimme auferlegt:209»Blässe«.