324WerkanalysenDem entgegen stehen entschiedene Gesten im musikalischen Satz, dem Text ent-sprechend in kurzen, wiederholten Ruf-Frage-Sequenzen bzw. dialogischer Andeu-tung. Während der zweiten Textstrophe verläuft die musikalische Motivik linearer, die Fragen »que sais tu l’ennui – que peux tu songer pour changer chaque jour en nuit«213 von breiter Intensität, bis sich in der dritten Strophe die Gestik vom Anfang bis zur Kurzatmigkeit zu steigern scheint. Der Klavierpart, bis hierher entweder dialogisch oder in stabilen Viertelschritten agierend mit auffälliger Häufung leerer Quintparallelen in beiden Händen, beschleunigt sich in Sechzehntel-Repetitionen. Im Fragment lässt sich in dieser drängenden Entwicklung gegen Ende des Liedes eine Dramatik erkennen, deren genauere Interpretation nur bei vollendetem Satz und vollständig lesbarem Text Sinn machte. Trotz dieser unbefriedigenden Textlage vermitteln sich in diesen drei Entwürfen unterschiedliche Vertonungsansätze Lipat-tis, die sich bereits in den Cinq Chansons und Quatre Mélodies gezeigt hatten: Die mu-sikalische Verarbeitung des Textes vollzieht sich entweder rein affirmativ, den Text bestätigend, mit großer Homogenität von Stimm- und Klavierpart, Stützung und Einfassung der Singstimme durch pianistische Zurückhaltung und motivische Übereinstimmung klassischen Vorbildern folgend, oder aber in abweichend kom-plementärem Agieren beider Stimmen, sei es als Spiegelung, sei es als Widerpart, Ergänzung, die Textaussage betont unterstreichend oder in Frage stellend, auch sie als vordergründig entlarvend. Die Nähe zur Sprachmelodie der Gedichtvorlage wird in den drei Skizzen durch die ausnahmslos syllabische Auskomposition be-tont. Deutlich erkennbar ist daher die Integration der divergierenden Vertonungs-ansätze der Cinq Chansons und Quatre Mélodies in die Sammlung dieser drei Lied-fragmente. Offen bleibt hingegen die Frage, ob Lipatti damit kompositorisch noch weitere Möglichkeiten des Liedschaffens zu erschließen anstrebt. Auf der Ebene der musikalischen Motivik und deren Verarbeitungsweise ist die Verwandtschaft zu Li-pattis Instrumentalkompositionen unverkennbar: Die kleinräumige Fortschreitung und Fortentwicklung einmal gesetzter Elemente, häufig darin repetierende Tonfol-gen, also bewegte Klangflächen, leere Quintschreitungen, chromatische Kleinschrit-tigkeit und eine tonale Mehrdeutigkeit, die durch rhythmisch zuverlässigen Halt aufgefangen wird, betonen sowohl Beständigkeit als auch Flexibilität. So tragen auch die Liedkompositionen Lipattis deutliche Kennzeichen seines Personalstils, verwandt vor allem seinen anderen Werken im »style français«, während Elemente der rumänischen Volksmusik als Charakterisierung vollkommen fehlen. Das Krei-sen um die sparsam ausgewählten Mittel mit wenigen Ausnahmen des motivischen Aufbrechens ohne extrovertierte Ausbrüche korreliert mit der nach innen gekehrten Haltung vieler Textpassagen. Von der hinter diesen perpetuierenden Verfahren ste-henden Systematik zeugt nicht zuletzt auch das auf dem Manuskript von »Les Pas« notierte harmonisch-akkordische »Schema«. Inspiriert vom Gedichtklang oder -in-halt vollzieht sich die Ausdeutung des Textes innerhalb eigener, strenger Gesetzmä-ßigkeiten.213»Was weißt du vom Verdruss – was kannst du ersinnen, um jeden Tag mit der Nacht zu vertau-schen«.